Die Bildnerische Werkstatt, künstlerische Heimat für viele Bewohner der Rotenburger Werke, wächst und gedeiht – und das nicht nur metaphorisch. Seit vier Jahren in Planung, zeigen sich allmählich die Früchte des ambitionierten aktuellen Großprojekts: Von den Wänden ranken künstliche Pflanzen, von der Decke ein Algenteppich, die reliefartigen Strukturen könnten als Korallenriffe gedeutet werden – oder etwas ganz Anderes. Nur einen Namen hat die kollektive Rauminstallation noch nicht. „Kunst zum Eintauchen“, die die Besucher in einen künstlichen Dschungel oder eine Unterwasserwelt entführt – ein inklusives Projekt, das neben den eigenen Künstlern auch Externe einbindet.
Das Attribut „inklusiv“ hören die Leiter Martin Voßwinkel und seine Kollegin Ragna Müller allerdings nicht besonders gern – genau wie die Unterteilung in „Künstler mit und ohne Behinderung“ für sie nicht zielführend ist: „Am Ende zählt immer die Qualität des Werks“, meint die Illustrationsdesignerin, die seit einem Schülerpraktikum mit 18 Jahren der Einrichtung verbunden ist. „Art brut “ – zugegeben, „das Label ist eine Quote“, stellt Voßwinkel pragmatisch fest. Das habe schon einige Türen geöffnet für externe Ausstellungen wie 2016 in der documenta-Halle. Damals hatten andere angefragte Einrichtungen sich am Titel „Kunst trotz(t) Handicap“ gestört und nicht teilgenommen. Nicht so die Rotenburger: „So eine Chance, die Werke in diesem Rahmen zu zeigen, wollten wir im Sinne unserer Künstler nicht verstreichen lassen.“
Denn auch das ist Auftrag der 1985 von Doris Adams-Wollschlaeger und ihrem Mann Rüdiger ins Leben gerufenen Institution: Die Kunst der hier wirkenden Menschen in die Öffentlichkeit zu tragen, Berührungspunkte zu schaffen. Das war damals keine Selbstverständlichkeit, wie sich Mitbegründer Wollschlaeger erinnert: „Lange war man in alten Zeiten verhaftet, der Zeit der Schlafsäle, wo Inklusion noch ein Fremdwort war. Die Zeit der Mauern, wo unsere Bewohner im Ort höchstens als kleine Gruppen schlecht gekleideter Menschen wahrgenommen wurden. Dass diese Leute liebenswert und individuell sind, wurde nicht gesehen.“ Dies wollten die Initiatoren ändern, mit dem Zeigen künstlerischer Begabungen einen Anknüpfungspunkt schaffen. Auf Gegenwind stieß das Ehepaar mit dem wegweisenden Projekt nicht: „Das war die richtige Zeit in den 70ern, eine Zeit des Umdenkens, wo es einen Schritt nach vorn und die Menschen einen Platz in der Gesellschaft brauchten“, so Wollschlaeger. Zusammen mit der Kreativen Werkstatt Stetten bei Stuttgart wurden die Rotenburger zu Vorreitern.
Heute kümmern sich vier Experten, alle selbst Künstler mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, um die Kreativen der Rotenburger Werke. Die „nicht-linearen“ Lebensläufe, wie Müller des nennt, sind von Vorteil, die Werkstatt ist nicht nur Anlaufpunkt für Bewohner, um ihre Kreativität auszuleben („wir arbeiten nicht therapeutisch, sondern künstlerisch“, betont Müller), sondern auch Agentur und Schnittstelle; die Mitarbeiter gleichzeitig Atelierbetreiber, Kuratoren, Inventarisierer, Brückenbauer. Auf der Website des Ateliers www.bildnerische-werkstatt.de werden sie liebevoll als „Reiseleiter“ bezeichnet – wohin die Reise geht, wissen die vier hauptamtlichen Mitarbeiter allerdings selten. „Das bestimmen die Menschen hier – „wir erfinden Produkte und Ausstellungen drum herum“, erklärt Voßwinkel. Und davon eine ganze Menge: Gerade wurde die Bildnerische Werkstatt mit der künstlerischen Gestaltung des neuen Fachpflege-Gebäudes der Werke beauftragt – 7000 Quadratmeter Fläche, die erstmal bestückt werden wollen. Eine der vielen Schnittstellen zur Öffentlichkeit, die die Bildnerische Werkstatt zur „Welt hinter den Mauern“ bietet – eine Blase, die immer weiter aufbricht: Mit Veranstaltungen wie dem Wirtschaftsforum, dem Stifterabend, der Kulinarischen Nacht oder dem Verleih von Kunstwerken, den nicht nur Privatpersonen, sondern auch etliche Unternehmen für sich entdeckt haben. Oder die gemeinsamen themenbezogenen Workshops: „Da bestätigen Externe uns immer wieder, wie viel sie von unseren Künstlern lernen: Die sind nicht so verkopft, intellektuell nicht blockiert“, erzählt Müller.
Auch der noch namenlose Dschungel bringt Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Die Schüler des Ratsgymnasiums und aus Portugal, die im Rahmen eines Erasmusprojekts halfen, tauchten sehr schnell in den künstlerischen Prozess mit ein: „Zuerst war es sehr still, die Schüler haben viel beobachtet und dann ziemlich schnell mitgebaut“, erzählt Müller. Mit der immersiven Ausstellung, die am 3. November eröffnet und nach fünf Wochen wieder einem „normalen“ Atelierbetrieb Platz macht, soll noch lange nicht Schluss sein: Geplant ist eine virtuelle Aufbereitung mit 3D-Brillen, „damit die Ausstellung nicht mit drei LKWs nach Lissabon gekarrt werden muss, sondern nachhaltig dort gezeigt werden kann“, erklärt Voßwinkel.
Fotos: Mark Intelmann