Brigitte Borchers – Feierabend

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    Rotenburg. 1990 begann Brigitte Borchers bei der Stadt, zuvor hatte sie schon verschiedene berufliche und vor allem räumliche Stationen auf der Habenseite gesammelt. Allein die Anzahl ihrer Umzüge – wie, wann, aus welchem Grund, wohin – würden wohl Seiten füllen. „Das war schon als Kind so“, erinnert sie sich. Geboren in Bremen, schlugen bereits in ihren ersten sieben Lebensjahren drei Umzüge zu Buche, weitere folgten – insbesondere bedingt durch die berufliche Tätigkeit ihres Vaters. Bad Nenndorf steht mit auf der Liste der Wohnorte, ebenso zählen Kirchhorst und Hamburg dazu. In beiden letztgenannten Orten besuchte Brigitte Borchers reine Mädchengymnasien. „Das war damals einfach so“, berichtet sie, setzte sich aber bereits als Schulsprecherin fürs Thema Koedukation ein. Nach dem Abitur in der Hansestadt schließlich die Überlegung: Was mache ich nun? „Ich wollte Medizin studieren oder freischaffende Künstlerin werden.“ Bei Plan A war der Numerus Clausus eine Hürde, bei Plan B die fehlende Mappe. Und so verschlug es Brigitte Borchers, die inzwischen mit ihrem Freund zusammengezogen war, zunächst in die Branche, in der auch ihr Freund arbeitete: Sie wurde Programmiererin bei einer großen Versicherungsgesellschaft, absolvierte die passende Ausbildung und wurde vom Betrieb übernommen.

    Das Ziel Studium aber blieb. Medizin wurde es nicht, wohl aber Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur. Noch nicht lange an der Uni, kam dann schon Kind Nummer eins auf die Welt. Alles unter einen Hut zu bringen, wie klappte das? „Das funktionierte nur, weil mein Mann inzwischen auch studierte. Wir haben zusammen das Vorlesungsverzeichnis durchgeschaut. Er hatte zwei Tage in der Woche, zwei Tage ich, dazu gab es einen Verfügungstag.“ So konnten die zwei Nachwuchs und Seminare unter einen Hut bringen. Weil’s so gut funktionierte, kam 1977 Kind Nummer zwei. Und schließlich: Kind Nummer drei – allesamt im Laufe des Studiums. „All das haben wir nur als Paar geschafft.“ Eine schon begonnene Promotion wurde im Laufe der dritten Schwangerschaft kurzerhand in einen Magisterabschluss umfunktioniert. Dann der tiefe Einschnitt: „Mein Mann erkrankte schwer und verstarb ein Jahr später.“ Eine schlimme Zeit. Am Kiekeberg-Museum eröffnete sich für Brigitte Borchers die Chance auf eine ABM-Stelle als Kunsthistorikerin. Und wie führte sie der Weg in die Wümmestadt? „Ich war damals schon lange in der Rotenburger Amnesty-International-Gruppe. Von dort bekam ich den Tipp, dass die Stadt eine Sachbearbeiterin für Gleichstellungsfragen suchte“, erzählt sie. Die Bewerbung ging raus – der Zuschlag erfolgte. Das war 1990. „Ich kann mich noch gut an die erste Woche erinnern. Statt ins Rathaus ging es nämlich gleich zu einem Vernetzungstreffen aller Gleichstellungsbeauftragten nach Kiel“, erinnert sie sich. Und so schlugen ihr dort geballt jede Menge frauenpolitische Themen entgegen. Mit vielen Anregungen, Fragen und Forderungen zog sie in ihr Büro ins Rathaus – damals noch an Bord: Bürgermeister Bodo Räke und Stadtdirektor Ernst-Ulrich Pfeifer.

    28 Jahre später – wenn Brigitte Borchers aufsteht und an ihre Regale in ihrem Büro tritt, zieht sie Ordner für Ordner heraus – alle pickepackevoll mit Aktionen und Projekten. Von Anfang an legte sie großen Wert aufs Thema Vernetzung. So entwickelte sie schon von Beginn ihrer Tätigkeit an zahlreiche wertvolle Kontakte zu Personen und bestehenden Einrichtungen in der Region. Gemeinsam mit engagierten Mitstreiterinnen gründete sie schließlich Wildwasser, den Verein gegen sexualisierte Gewalt. Der internationale Frauentreff entstand. Ausstellungen wurden auf die Beine gestellt. Das Erzählcafé wurde begründet, ebenso der Arbeitskreis Mädchen und später der Mädchenaktionstag. Die erste Frauenwoche fand statt (1993). Nur einige der Beispiele aus Brigitte Borchers Anfangsjahren. „Damals herrschte einfach allgemein eine unheimliche Aufbruchstimmung“, berichtet sie, die sich auf viele Mitstreiterinnen an ihrer Seite verlassen konnte. Der Bekanntheitsgrad stieg von Veranstaltung zu Veranstaltung und so wurde sie als Gleichstellungsbeauftragte mehr und mehr von außen kontaktiert. Und die Resonanz aus der Politik? „Ich wurde wohlwollend aufgenommen – aber auch mit einer Erwartungshaltung, dass sich frauenpolitisch etwas vor Ort tun sollte.“ Insbesondere mit der damaligen Ratsfrau Hedda Braunsburger habe sie auf einer Wellenlänge gelegen. Sich für Toleranz in der Gesellschaft und für Zivilcourage einzusetzen – das sei beiden immer wichtig gewesen.

    „Kinderbetreuung im europäischen Vergleich“ oder die „Perlonzeit“ rund um die 50er-Jahre. Nur zwei Beispiele für die vielen Ausstellungen, die Brigitte Borchers initiierte. Ein Highlight sei zudem die große Präsentation „Frauen leben in Rotenburg“ zur 800-Jahr-Feier der Stadt gewesen. Besonders am Herzen liegt ihr außerdem ein erst jüngst erreichter Erfolg: „Das Agaplesion Diakonieklinikum ist dem Netzwerk ‚ProBeweis’ beigetreten. Darüber freue ich mich sehr“, berichtet sie. Kurzerklärung: Die dem Netzwerk angeschlossenen Kliniken bieten Frauen, die durch häusliche und/oder sexuelle Gewalt verletzt wurden, vertrauliche Befund- und Spurensicherung an, die auch nach mehreren Jahren noch gerichtsverwertbar ist. Brigitte Borchers wirkt kurz vor ihrem beruflichen Ausscheiden zufrieden – wenn auch nicht alles positiv abgehakt werden konnte. „Mir ist es in den vergangenen Jahren leider nicht gelungen, zu den jungen Frauen mehr Kontakt aufzubauen“, gibt sie zu. Sicher gelinge das ihrer Nachfolgerin. Das jedenfalls wünscht sich Brigitte Borchers, denn auch, wenn es rechtlich gesehen viele positive Veränderungen für Frauen gab – im Alltag sei Gleichstellung keineswegs überall angekommen. „Immer noch etwa sind die meisten Führungspositionen männlich besetzt und der Niedriglohnsektor wird von den Frauen dominiert“, sagt sie. Leider habe auch Machismus wieder mehr Einzug ins tägliche Miteinander gehalten – eine bedenkliche Entwicklung. Immerhin sei die Zeit nicht mehr rückgängig zu machen, viele Frauen hätten ein gutes Selbstbewusstsein, gute Ausbildungen und forderten ihre Rechte ein. Doch insgesamt hätten sich die Machtstrukturen noch nicht verändert.

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    Kommt Wehmut auf, das Rathaus zu verlassen? „Sicher gibt es den. Aber es fällt mir auch nicht schwer, loszulassen“, sagt Brigitte Borchers, die jedoch etwas verzweifelt, wenn’s ums Aufräumen geht. So viel Material in Schubläden und Regalen – unsortiert. „Das hat mich schon mal aus dem Schlaf getrieben.“ Trotzdem – ihre Unterlagen wird sie für die Nachfolgerin geordnet hinterlassen. In Rotenburg habe sie viele Freundinnen und Freunde – schon allein deshalb wird die Wümmestadt nicht aus Brigitte Borchers’ Blick geraten. Sie selbst ist inzwischen glücklich und zufrieden im Bremer Viertel. Und auch wenn erstmal etwas Ruhe angesagt ist: „Ich bin umtriebig.“ Heißt: Nur Füße hochlegen, dabei bleibt es nicht. Auch nicht beim Thema Musik. 17 Jahre stand Brigitte Borchers mit Mackie Mahr als Duo „HIN & WEG“ auf der Bühne, sang, spielte Klavier und Akkordeon. Bis sich die zwei entschieden, aufzuhören. „Die Figuren, die wir damals auf der Bühne verkörperten, haben wir vor zwei Jahren in den Ruhestand geschickt.“ Doch jetzt, wo Brigitte Borchers’ eigener Ruhestand naht, rückt die Musik erneut mehr in den Fokus: „Mackie und ich wollen musikalisch wieder etwas zusammen machen.“ Was und wann, ist nicht klar, aber irgendwas kommt. „Vielleicht auch erst, wenn wir beide 80 Jahre alt sind“, lacht Brigitte Borchers. Pläne, über die sie sich nun Gedanken machen kann – bei ihrem Hobby, dem Goldschmieden, beim Singen in der Kulturkirche Bremen, beim Hochlegen der Füße im Bremer Viertel und eben auf ihrer dänischen „Trauminsel“ Samsø. Und vielleicht auch mal dort, wo Brigitte Borchers immer gerne saß und die Pausen vom Rathaus genoss: auf dem roten Sofa im Café Marleen in Rotenburg.

    Fotos: Mark Intelmann

    Wibke Woyke
    Wibke Woyke
    Wibke Woyke schrieb von September 2017 bis Juni 2020 für die STARK.
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