Geschichte lehrt und Geschichte darf nicht vergessen werden, findet Gunter Demnig. Sie gehört weitererzählt, und das nicht nur abstrakt in Büchern, Museen oder Ausstellungen, sondern direkt dort, wo die Menschen sie in ihrem Alltag wahrnehmen. Bei ihnen zu Hause. Jeder soll dank Stolperstein verstehen, was mit den Menschen, die nicht ins Bild der Nazis passten, passiert ist. Vor Ort. „Mir ist es wichtig, gerade den jungen Leuten, also Schulkindern und Jugendlichen, die vom Krieg gar nichts miterlebt haben, ein Stück Geschichte mit auf den Weg zu geben“, erklärt der Künstler, der lange in Köln gelebt hat und inzwischen in ländlicher Region am Vogelsberg Kunst schafft – wenn er nicht gerade neue Steine verlegt. „Menschen verstehen es tiefgreifender, wenn das Denkmal quasi zu ihnen kommt. Wenn sie sehen, dass es Nachbarn, Verwandte waren, die gefoltert, verjagt oder ermordet wurden. Es passierte hier.“
Stolpersteine in Rotenburg und Verden. Zehn mal zehn Zentimeter Beton-Quader, versehen mit Messingplatten. Jeder Stolperstein ist genau einem Menschen gewidmet. Jeder Stein beginnt mit den Worten „HIER WOHNTE“, denn sie werden dort verlegt, wo das letzte, frei gewählte Zuhause des Opfers zu finden war. Name, Jahreszahl, Schicksal – „das allein reicht, um eine persönliche Wirkung zu schaffen, eine Erinnerung, die bleibt“, weiß Gunter Demnig, der auch in Rotenburg und Verden sein Projekt umgesetzt hat. Während in Rotenburg Steine und Cohn-Scheune – ein jüdisches Museum – an das in Auschwitz ermordete Ehepaar Cohn und seine Mitarbeiter erinnern, zwei Stolpersteine vor dem Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg auf tödliche Zwangssterilisationen hinweisen, und vor den Toren der Rotenburger Werke drei Steine stellvertretend für drei der nachweislich 547 deportierten Menschen gedenken lassen, sind auch in Verden ganze 81 Stolpersteine in der Stadt und in umliegenden Ortschaften verlegt – alle mit eigenem Schicksalsschlag versehen. Alle allein beim Lesen unendlich schmerzhaft.
Die emotionale Reaktion der Menschen, die ihn mit dem Verlegen beauftragen, die die Steine sehen und ihre Geschichte spüren, die sich bei ihm melden und der Zeremonie beiwohnen – die lässt ihn immer weiter bei so gut wie jeder Verlegung selbst zur Schaufel greifen, erklärt der Künstler. „Manch einer sagt zu mir: Das ist doch Routine, was du da machst. Ist es nicht. Es geht immer um Menschen und ihre persönlichen Schicksale.“ Familien kommen zusammen, sehen sich zum ersten Mal, wenn die Steine feierlich in die Erde gesetzt werden. Gunter Demnig spürt ihre Dankbarkeit. „Ich hatte mal eine Verlegung, da sind die Angehörigen von drei Kontinenten zusammengekommen, angereist aus Holland, aus Amerika, Südafrika. Manche lernen sich erst dadurch kennen, dass sie einem verstorbenen Familienmitglied ein Denkmal setzen.“
Als dem Künstler vor zig Jahren in den Sinn kam, seine Stolperstein-Idee ins Rollen zu bringen, sah er sie angesichts der Opferzahl, dem Ausmaß des erdachten Kunstwerks zunächst – ganz realistisch – kritisch. „Doch zeitgleich suchte eine Kölner Kunstzeitung nach neuen Kunstprojekten unter dem Arbeitstitel ‚Größenwahn‘. Das passte. Ich habe meine Idee eingereicht und wir sehen heute, wohin es geführt hat.“ Wenn Sie also das nächste Mal „zufällig“ an einem Stolperstein vorbeigehen – gehen Sie nicht nur vorbei. Lesen Sie. Und erinnern Sie sich.