Heute kümmert er sich um das, für das er offenbar ein besonders empfindsames Näschen zu haben scheint: die Kunst. Kunst auf dem Campus. Auf dem Land. In Visselhövede. Das muss man erst mal können. Willi Reichert sagt selbst: „Wir sind hier nicht in Hamburg oder Bremen.“ Wenn nicht er, wer denn sonst sollte es besser wissen. Der gebürtige Neuburger von der Donau ist so etwas wie ein Zugpferd des hiesigen künstlerischen Spektrums und als ehemaliger Turmwächter an der Vissel eine Art kreative Institution.
Der „Wasserturm für künstlerische Zwecke“ auf dem Sonnentaugelände hat ihn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gemacht. Hat es sich für ihn in 12 Jahren gelohnt? Die Frage stellt sich Willi Reichert so nicht. Er sagt vielmehr: „Es ist sicherlich ein außergewöhnlicher Standort für künstlerische Begebenheiten und gerade dort mit sehr viel Zeitaufwand verbunden.“ Kunst in einer Stadt wie Visselhövede ist gewiss keine Schleckerei, weil Kunst ohne Kommerz ist längerfristig nicht darstellbar. Reichert skizziert das so: „Auf dem Land ist Kultur und Kunst vom Interesse her eben anders.“ Das Theater Metronom in Hütthof bilde da eine rühmliche Ausnahme. Da sei man äußerst präsent und mithin nah an der Klientel, die diese Kunst mag und konsumiere. „Wir müssen“, sagt der Mann, der viele Jahre in Riekenbostel beheimatet war und heute, mit Freundin, das betont er, in Schwitschen seine privaten Interessen wahrnimmt, „wir müssen der Kunst hier einen signifikanteren Stellenwert verschaffen.“ Dieses von ihm selbst verfasste Anliegen kann und will er offenbar nunmehr an neuer Stätte pointierter in die Wege leiten. Mehr aus privater Initiative heraus, denn mit städtischem Background. Klartext Reichert: „Kunst ist schließlich auch Geschäft.“ Da redet er denn nicht lange um den heißen Brei, denn schließlich ist sein Credo über Kunst und Kultur oder umgekehrt klar positioniert. „Aus Selbstzweck allein ist Kunst auf Dauer nicht zu gestalten“, gibt Reichert die Richtung vor, mit der er seine strategische Ausrichtung nunmehr spezifisch realisieren will.
Dass er seinem liebgewonnenen Wasserturm den Rücken kehrte, begründet er mit „Gesundheitsgründen“. Das klingt nicht ganz so überzeugend, weil nach dem Motto: Man kann es woanders treffender umsetzen! Diesen Treffer fand Reichert in einem gleichfalls Umzugswilligen: Unternehmer Joachim Behrens aus Scheeßel, der an der Vissel soeben sein neues unternehmerisches Wirkungsfeld ausgemacht hatte: Bundeswehr ade, Landwirtschaft olé. Über die Kunst, wie hätte es auch anders sein können, lernten sich die Beiden seinerzeit kennen. Natürlich über den Dächern von Visselhövede, in Reichert`s Rundling. Das war passend. Unternehmer generieren Kunst. Eine Ausstellung im Turm war der Schlüssel. Willi Reichert: „Herr Behrens informierte mich wenig später darüber, dass er eine Idee habe. Und ich hatte sofort einen Verdacht.“ Auch diese Analogie passte. Wobei die Frage natürlich sogleich im Raum stand: Was soll Kunst und/oder Kultur in einer Kaserne? Mehr denn je bedarf es dabei der Phantasie um diesen Widerspruch zu nivellieren. Die beiden ungleichen Partner – hier der prosperierende Unternehmer, dort der Mann, der auf 450 Euro-Basis, sagt er, seine privaten Einkünfte definiert – waren und sind sich offenkundig in Einstimmung darüber bewusst, den „Leerlauf“ an Kunst und Kultur in Visselhövede zu stoppen. Die beiden Männer haben sich darauf verschworen: „Wenn`s nicht klappt, dann haben wir es jedenfalls versucht!“
In den Häusern 3 und 4 auf dem 19 Hektar Fläche umfassenden Campus an der Bundesstraße 440 sollen die „bildenden“ Elemente und experimentellen Machwerke ihren Raum finden. Reichert: „Wir fangen erst mal mit Haus 4 an!“ In zehn und mehr Räumen, kleinere und größere, wie sie im Alltagsleben der Bundeswehr nun einmal von Nutzen waren, sind die Wände mit Malereien und Holzskulpturen verziert. Noch bevor Willi Reichert sein neues „Schatzkästchen“ öffnet, erklärt er freudestrahlend, wie die liegende Kuh, diese bunt bemalte, zu der wundersamen Ehre gekommen ist, den Eingang mit dieser Farbenvielfalt aufpäppeln zu dürfen. „Der Kindergarten Momo in Riep- holm hat das fertiggebracht.“ Die Kuh vom Sommerfest passt haargenau hier her, denn Unternehmer Behrens sammelt als landwirtschaftlich Schaffender wohl Kühe wie andere Leute griechische Götterfiguren für ihren Garten. Auf dem Campus grüßen farbige Kühe an beinahe jeder Ecke. Die erste Ausstellung in Haus 4, die Reichert Mitte Juni mit vielen Aktiven und Gästen feierte, ist scheinbar noch nicht zu Ende. Die Wände hängen noch voll. Macher Reichert erwartet noch einen – hohen – Besuch. Einen, der vielleicht mal relevant werden dürfte, wenn Reichert das in Anspruch nehmen will, was Kunst und Kultur nun mal einverleibt bekommen müssen, um zu überleben. Politiker Klingbeil – Bundestagsabgeordneter – will sich inspirieren und informieren lassen, und Willi Reichert kokettiert mit den Töpfen, die Politikern nicht unbekannt sein dürften. Unumwunden räumt er ein: „Ich hänge ja hier nicht nur Bilder auf. Dass wir auch Fördergelder benötigten ist unabdingbar!“ Die Kunst – das öffentliche Stiefkind?! „Nein, das ist zu dick“, rückt er zurecht, bemängelt zugleich aber: „Es ist schwerer geworden nach den Töpfen zu greifen, früher hat man darin herum geaast“.
Ideen, um „seinen“ Campus mit Leben zu erfüllen und um ihn nach allen Seiten hin gedeihen lassen zu können, hat „der Willi“, wie er in Visselhövede vielfach wahrgenommen wird. Wobei „dieser Willi“ eigentlich Manfred heißt. Namentlich wurde es so via Geburt quasi testamentarisch dokumentiert, aber es gehört für ein Unikum wie ihn wohl dazu, dass er vom gelernten Automechaniker – damals bei Audi, versteht sich – zum Erzieher und Arbeits-Therapeuten wandelte und dann auch noch „sein Willi“ als Manfred Willi Reichert auf ominöse Art und Weise in sein Stammbuch endgültig Einzug hielt. Den „Willi“ hat er sozusagen von seinem bayerischen Landsmann und Musikus Konstantin Wecker „geerbt“, dessen Kult-Hit „Gestern habns an Willy begrabn…“ ihm gewissermaßen angedichtet wurde. Und da seine einstige Freundin von diesem hehren Gedankengang keinen Wind bekam, wurde er weiland in der Gemeinde Bothel, wo sie vorstellig wurde, mit Manfred Willi Reichert in die Einwohner-Kartei aufgenommen. Aufnehmen möchte der Kultur-Arrangeur liebend gerne Menschen aus der Region. „Der Bezug“, meint Reichert, „Künstlerisches so nah wie möglich zu präsentieren, ist interessant und wichtig.“ Belebende Elemente für dergleichen hängen bereits in Haus Nummer 4. Eine Frau aus dem Irak, ehedem zu den Flüchtlingen zählend, hat Diffiziles markant zu Papier gebracht. So ganz nach Reicherts Phantasie-Vorgaben: „Kunst“, doziert er, „muss nicht schön sein!“ Geistigen Rückhalt hat er sich für diesen Essential von einem gewissen Herrn Meyer vom Auktionshaus Sotheby´s in London geholt, der da einst sprach: „Ein gutes Werk ist das, was man nicht vergisst!“
Reichert selbst behält fest im Blick, dass er und JBS („denkt über den Tellerrand“) zum Jahresende ein vorläufiges Fazit ziehen wollen: was, wie und wann sich rentiert (hat). Die Tendenz, den Campus mit K & K aufzupolieren, sieht für ihn „fröhlich“ aus. Ab August wurde das Atelier-Abteil bezogen. Zwei Fotografen und eine Rockband sorgen für reichlich Laune, zwei malende Kollegen (Reichert greift selbst auch zum Pinsel) lassen´s noch farbenfroher werden. Reicherts Wunschdenken nimmt Anlauf: „Eine Atelier-Gemeinschaft, die sich selber organisiert, weil eigenhändig den Müll rausträgt, das wär`s.“ Kann ja werden. Und wenn die Visselhöveder Schulen mal auf den Trichter kommen sollten, experimentelle Kunst auf dem Campus von ihren Schülern gestalten und präsentieren zu lassen, pädagogisch und didaktisch wahrscheinlich wertvoll, wie solche bereits in zwei Räumen gegenwärtig ist, dann wäre Willi Reichert vollends im siebten Himmel. Junge Menschen sind ihm heilig und in Verbindung mit seinem Lebenselixier Kunst wäre eine solche Aktivität geradezu „wie verrückt“. Er hat da so seine eigene schon philosophisch anmutende Ausrichtung: „Wir dürfen nicht fragen: Wollen junge Leute Kunst? Nein, was machen Sie für eine!“.