Greor Gysi zu Gast im Wachtelhof

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    Nein, so ganz direkt hat er unsere Frage, mit der wir uns für das Interview präpariert haben, ja nicht beantwortet. Aber die Antwort erschloss sich aus dem Dialog mit dem Journalisten und Ex-Chefredakteur der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ Hans Dieter Schütt, den Gregor Gysi im Rahmen der als Lesung angekündigten Veranstaltung im Landhaus Wachtelhof Rotenburg führte. Linkes Gedankengut und Wachtelhof als Location für die Lesung, wie geht das überein, wäre die Frage gewesen. Gysi konterte charmant und freundlich lächelnd: „Ein Linker muss gegen Armut sein, aber nicht arm.“ Damit war alles gesagt. Er ist ein gewiefter Geschichtenerzähler, ein mehr als eloquenter Gesprächspartner, ein charmantes Gegenüber, jemand, der einen Plan im Kopf hat und ihn stringent verfolgt, auch im Gespräch. Ein guter Zuhörer zu sein, das muss er noch üben. Er ist dabei, das bescheinigen ihm seine drei Kinder (50, 47 und 22 Jahre). „Die Kinder sagen, ich höre jetzt besser zu.“ Denn auch das sei ein Grund gewesen, sich aus der ersten Reihe der Politik zu verabschieden, um mehr freie Zeit für andere wichtige Dinge des Lebens zu haben. Trotzdem hat er davon viel zu wenig, schon jetzt stehen für 2020 sechs Termine in seinem Kalender. „Heute übernachte ich hier, morgen bin ich woanders“, so sieht der Alltag von Greor Gysi aus. Wo immer das Woanders auch ist. Wieviel Zeit er zuhause verbringt? „Da muss ich nachgucken“, sagte er und gab damit eindeutig den Hinweis, dass es überschaubar ist. Ob man ihm beim Lesen seiner im Aufbau-Verlag erschienen Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“ näher komme und ob das so von ihm gewollt sei? „Zweifellos“, sagte Gysi kurz und knapp. „Ich habe sehr persönlich, aber nicht privat geschrieben.“ Sehr persönlich, aber nicht privat zeigte er sich auch im Gespräch während der Veranstaltung im Landhaus Wachtelhof.

    Es ist sein Anliegen, entspricht aber auch seinem Naturell, Politik mit viel Ironie und mindestens eben soviel Selbstironie, deshalb aber nicht weniger gehaltvoll, zu vermitteln. Die Leute hätten durch diese Art der Wissensvermittlung viel über die DDR und den Bundestag begriffen, fügte der ehemalige Parteichef „Die Linke“, Wirtschaftssenator, Oppositionsführer im Bundestag, Spitzenkandidat und heutiger Vorsitzender der Europäischen Linken und Bundestagsabgeordneter an. So unterfütterte er auch im Wachtelhof politische Ereignisse und Statements mit persönlichen, aber nicht zu privaten Geschichten. Er brachte die Zuhörerschaft, die überwiegend nicht zu seinen Stammwählern zählte, mühelos auf seine Seite und nahm sie innerhalb kürzester Zeit für sich ein. Als er Rotenburg auf der Liste seiner Lesereisen sah, war ihm bewusst, dass es nicht so weit von Hamburg und vom Meer, das er sehr liebt, entfernt ist. „Und den Begriff Wümme fand ich schön.“ So viel zu Rotenburg und Gregor Gysi. Rotenburgs soziale Ausrichtung durch die Rotenburger Werke war ihm kein Begriff. Gefragt nach seinem eigenen sozialen Engagement, sagte er, dass er bestimmte Strukturen entwickelt habe. Er spende in einem bestimmten Rahmen, obwohl er wisse, dass er damit nicht die Welt rette, und könne an keinem Bettler vorübergehen. „Letztlich versuche ich, Lösungen zu finden“, sagte er und führte dabei auch seinen Spitzensteuersatz an. Und auch jetzt wieder, als hätte er es geahnt, nimmt Gysi die Antwort auf eine unserer Fragen vorweg und beschreibt sich selbst mit kurzen prägnanten Begriffen in der Reihenfolge der Wertigkeit. An erster Stelle seiner

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    Selbstdarstellung steht der Politiker, gefolgt vom Rechtsanwalt, dessen Tätigkeit er einmal pro Woche in Berlin ausübt. Es folgt der Autor. „Sehr anstrengend“, kommentiert Gysi diese Tätigkeit. Dann kommt der Moderator und zuletzt erst der Privatmann. Ob er sich eher als Politiker oder als Kabarettist verstehe, so die Frage. Kabarett, das könne er nicht. Denn man gelte nur als sachverständig, wenn man ernst ist. Weder in der DDR noch in der BRD erhielt er eine staatliche Auszeichnung, nur eine DDR-Urkunde über die Teilnahme an einem Waldlauf und den Orden wider den tierischen Ernst, auch darauf ist er stolz. Es ist die Freude am Formulieren und am Wort gepaart mit Eloquenz und Querdenkerei, die ihn unterscheiden. In seiner Doktorarbeit wies er nach, wie er schmunzelnd berichtete, dass auch in der DDR im Zivilrecht Gesetze verletzt wurden. „Spitzfindigkeit war und ist mein Fachgebiet“, sagt er von sich. Dafür nannte er Beispiele. Im Strafrecht, so Gysi, werde alles im Singular formuliert. Da die Anklageschrift gegen seinen Mandanten aber die Mehrzahl von Straftaten implizierte, plädierte Gysi auf Freispruch. „Da war ich immer so ein Pingel“, sagte er zufrieden und ganz mit sich im Reinen. Das in ihm steckende Grundwesen eines Anwalts sei auch Antrieb gewesen, vor dem Parlament zu reden. „Der Anwalt steckt voll in mir.“

    Seine Sicht auf die Welt wurde geprägt durch sein Elternhaus, einem Haus voller Bücher und Besuch aus aller Welt, weil es das Haus eines Verlegerehepaars war. Das, und er betont „das“, seien Privilegien gewesen. Der mit 23 Jahren als jüngster Anwalt der DDR geltende Rechtsanwalt wusste mit 18 Jahren noch nicht, wohin er wollte. Schnell aber merkte Gysi, dass der in der DDR aussterbende bürgerliche Beruf des Anwalts im Kern für ihn der geeignete Beruf sei. Noch heute ist er stolz darauf, dass er die Aufhebung des Hausarrests von Regimekritiker Robert Havemann initiierte. Auf die Frage, was er Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung „Aufstehen“ wünscht, antwortet Gysi: „Wenn jemand dafür ist, Alternativen in der Gesellschaft zu schaffen, dann war ich es. Gegen die Sammlungsbewegung habe ich nichts, aber wenn man es von oben beschließt, kriegt man es nicht hin.

    Ich wünsche mir, dass ein Zusammengehen wirklich vorangeht. Ich wünsche aber nicht, dass es auf Spaltung hinausläuft.“ Und dann probieren wir es noch einmal ein wenig privat, auf keinen Fall aber persönlich. Denn das leistet die Frage nach Hobbys, Lieblingsessen und Kochen nicht. „Ich kann Scholle mit Wirsingkohl und gefüllte Paprika mit Rapunzelsalat und Dressing“, verrät Gysi, der zugibt, dass er gerade kochen lernt und ein paar Dinge schon kann. Das habe er gerade für Gäste gekocht. Auch in der Musik hat er einen ganz eigenen Geschmack und eine besondere Auswahl. „Der hängt sehr von der Stimmung ab.“ Es ist die Musik der irischen New-Age-Musikerin Enya, deren Namen er gerade nicht parat hat und daraus Nena oder Lena macht, die er gerne hört. Und er habe seine Liebe zu Opern entdeckt, aber auch Jazz und Klassik stehen auf seinem Programm.

    Fotos: Mark Intelmann

    Sabine von der Decken
    Sabine von der Decken
    Geboren 1957 in Nordrhein-Westfalen, Studium der Diplom-Biologie in Bremen und Oldenburg. Seit mehr als 20 Jahren freie Mitarbeiterin Weser Kurier Bremen, arbeitet zudem für Fachmagazine wie Land und Forst und Gartenbauprofi.
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