Weiter ging’s nach Limburg an der Lahn (wo sie ihren Mann kennenlernte) und Reutlingen (dort wurde die erste Tochter geboren). Nach der Facharztausbildung ihres Mannes ging es nach Mühlacker, wo der Sohn geboren wurde – und dann erhielt ihr Mann schließlich die Möglichkeit, nach Kinshasa in Zaire, heute Demokratische Republik Kongo, zu gehen, um dort ein HIV-Präventionsprojekt mit aufzubauen. Kisten und Koffer packen also für die ganze Familie mit beiden Kindern. HIV, Hepatitis B, Malaria – was Antje Jäger dort sah und erlebte, hat sie geprägt. „Ich habe in Krankenhäusern hospitiert, um eigentlich dort zu arbeiten. Aber in solchen Zuständen wollte ich einfach nicht arbeiten, es war schrecklich“, erinnert sie sich an die medizinischen und hygienischen Verhältnisse. Die einzige wäre sie dort gewesen, der Handschuhe bei der Arbeit zur Verfügung gestanden hätten. Für die anderen: Fehlanzeige. Schlimme Zustände für alle Beteiligten. Ergebnis: 25 Prozent der Kinder in Zaire erreichten damals nicht das fünfte Lebensjahr, fast zehn Prozent der Frauen starben in Schwangerschaft oder während der Geburt. Antje Jäger kümmerte sich freiberuflich stattdessen als Hebamme in der Folgezeit um europäische Frauen vor Ort, unterstützte sie bei Hausgeburten oder betreute sie, bis sie nach Europa zur Geburt flogen. „Dass ich da war, sprach sich herum“, erinnert sie sich und so gab es genug zu tun. Und schließlich wurde sie 1990 selbst erneut schwanger, Kind Nummer drei kündigte sich an. Das belgische Hospital, das sie sich auserkoren hatte für die Geburt, schloss allerdings kurzerhand in Folge von Unruhen. Das Kind zur Welt bringen in einem anderen Krankenhaus, in diesen schwierigen Verhältnissen? Das kam nicht in Frage und so setzte sich Antje Jäger mit ihren zwei Kindern in der 32. Schwangerschaftswoche in den Flieger nach Deutschland, um kurzfristig in Gießen zu bleiben. Ihr Mann blieb erst einmal zurück, erlebte die Geburt jedoch mit, musste aber dann wieder zurück nach Afrika.
Keine leichte Zeit. „Es war sehr schwierig. Da saß ich nun mit drei Kindern.“ Familie und Beruf vereinbaren – wie? An wen wenden, wenn Unterstützung gut tun würde? Hilfsangebote von Vereinen und Initiativen? Nicht vorhanden. Aber zum Glück gab es einen Kindergartenplatz. Dass es heute Mütter in diesem Punkt einfacher haben sollen, war für Antje Jäger Jahre später ein Ansporn, den Verein SIMBAV mit aus der Taufe zu heben. Doch bevor es für sie nach Rotenburg ging, folgten bedingt durch berufliche Veränderungen ihres Mannes erst einmal Zwischenstopps in Bremen und in Berlin. Und schließlich gab es für ihn dann eine Stelle in Hamburg. Doch stopp! „Nun reichte es aber mit den Umzügen, auch im Sinne der Kinder“, machte Antje Jäger deutlich. Wo also in Hamburger Nähe schön wohnen? Klar, in Rotenburg! Und so kam die Familie an die Wümme. Das war 1998. Seitdem ist wieder viel passiert. Was Antje Jäger anfasst: Sie macht es mit Power, Freude und Durchsetzungskraft. Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind eine besondere Zeit im Leben einer Frau. Und so gründete sie gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen die Hebammen Praxis Rotenburg, heute ‚Rotenburger Hebammen‘, in der Frauen bedürfnis- und bedarfsorientiert in ihrer persönlichen Lebenssituation begleitet werden. Ziel ist es, die Familie so zu stärken, dass sie nach dem Wochenbett das gemeinsame Leben gestalten kann.
Durch die vielen Umzüge hatte Antje Jäger räumlich bedingt meist keine familiären Ressourcen, auf die sie helfend hätte zurückgreifen können. Dazu die erwähnte fehlende Unterstützung von Initiativen oder Vereinen. Als sie schließlich nach Rotenburg kam, merkte sie bald: Auch vor Ort gibt es für junge Mütter wenig Hilfe bei Fragen und Problemen und keine Möglichkeiten, sich auszutauschen. Das sollte sich ändern. Gemeinsam mit weiteren Mitstreitern und Mitstreiterinnen wurde 2005 SIMBAV gegründet (seit 2006 mit Vereinsstatus). SIMBAV, hinter diesen Buchstaben stecken die Begriffe Schwangere, Information, Mütter, Babys, Austausch, Väter. „Wir versuchen in unseren Gruppen, den sozialpädagogischen sowie den gesundheitlichen Aspekt in der Arbeit mit Babys und kleinen Kindern sowie ihren Eltern gleichermaßen zu fördern. Gleichzeitig ist genügend Raum für Austausch untereinander. Bei besonderen Bedürfnissen oder Fragen, die nicht in der Gruppe besprochen werden können, gibt es die Möglichkeit, Beratungstermine zu vereinbaren. Im Rahmen des Familienforums gibt es weitere aktuelle Angebote und feste Telefonsprechzeiten sowie spezielle Beratungsstunden zu verschiedenen Fachbereichen“, heißt er erklärend auf der Website. Bereits von Beginn an fungiert Antje Jäger als 1. Vorsitzende und hat seit jeher ein sehr engagiertes Team im Mütterzentrum an der Seite. Dadurch ist SIMBAV Stück für Stück gewachsen.
„Schon an unserem ersten Tag waren 17 junge Mütter da“, erinnert sie sich an den hohen Bedarf für ein solches Angebot. Inzwischen ist SIMBAV (nach dem Start in der Auferstehungsgemeinde und nach einigen Jahren im Rat- und Tatzentrum) in der Großen Straße 21 beheimatet und bietet nicht nur Termine in der Wümmestadt an, sondern auch in anderen Gemeinden. Bei SIMBAV kann jeder so sein, wie er ist. Und auch die Kinder dürfen einfach Kinder sein. „Und wenn eins von ihnen beim Treffen die Hosen voll kackt, dann ist das so. Na und?“ Keiner würde sich darüber beschweren. Praktische Hilfe gibt es übrigens inzwischen ebenso durch das Projekt „Wellcome“. Es unterstützt junge Mütter oder Familien nach der Geburt eines Kindes und hilft, den Babystress zu bewältigen. Der Hilfe- und Unterstützungsbedarf ist generell weiterhin hoch. Mit Blick auf die Gesellschaft ist Antje Jäger überzeugt: „Junge Mütter fühlen sich oft unter Druck gesetzt, dass ihre Kinder quasi funktionieren müssten.“ Und doch oder gerade deswegen haben sie viele Fragen, bei denen nicht nur der Austausch mit Expertinnen hilft, sondern ebenso der mit Müttern und Vätern, denen es ganz ähnlich geht. Auch, wenn die junge Generation heute oftmals Rat bei Google sucht – der persönliche Kontakt zu Menschen mit gleichen Fragen und Bedürfnissen ist sicher wertvoller, als die Antworten der Internetsuchmaschine. Es sind Eltern aller Gesellschaftsschichten, die Hilfe bei SIMBAV suchen. Beratung gibt es beispielsweise zu wichtigen Themen wie Ernährung, aber auch zur Beschäftigung mit dem Nachwuchs. Für die Termine gilt: Handys aus! Denn die, so Antje Jäger, seien in der heutigen Gesellschaft sowieso schon viel zu viel im Einsatz – sei es beim Spaziergang mit dem Kind im Kinderwagen oder sogar beim Stillen, wie sie kopfschüttelnd berichtet.
Wenn sich Antje Jäger etwas wünschen könnte, was wäre das? Für SIMBAV: ein festes Haus, in dem Platz für alle ist. Im Sinne werdender Mütter: mehr Ausbildungs- und Studienplätze für angehende Hebammen, die Anerkennung, die dem Beruf zusteht, und eine ausreichende Hebammenversorgung, gerade auf dem Land. „Babys sollten es bei ihrem Schritt ins Leben schließlich so gut haben, wie es nur geht.“ Und für sie persönlich? „Ich brauche nicht viel“, sagt sie und lehnt sich in der Sonne zurück. Antje Jäger sieht zufrieden aus. „Ich fühle mich wohl und bin ein zufriedener Mensch.“ Wie viele Geburten sie im Leben schon begleitet hat, wurde sie schon oft gefragt. Doch die genaue Anzahl kennt sie nicht, es war ihr nie wichtig. Heute sind es jährlich etwa 20 bis 22 Hausgeburten neben den Frauen, die sie in Schwangerschaft und Wochenbett begleitet. Sie ist die einzige Hebamme im Landkreis, die noch Hausgeburten begleitet. Hebamme zu werden – auch rückblickend noch die richtige Entscheidung? „Ja, absolut, das habe ich nie bereut“, bekräftigt die 57-Jährige. Und wenn man ihr zuhört, wie sie von ihrem Beruf, den vielen Erlebnissen, aber auch den (bürokratischen) Widrigkeiten erzählt, merkt man: Antje Jäger liebt ihren Beruf. „Mit werdenden Eltern gemeinsam den Weg zur Geburt zu gehen, das ist einfach schön!“ Immer noch ist es für sie ein Wunder: „In einem Moment hängt das Kind noch an der Nabelschnur, im nächsten atmet es ganz eigenständig.“ Ein rührender Augenblick. „Einfach gewaltig.“ Spricht’s, steht auf und macht sich wieder an die Arbeit: Der Rasen muss ja noch fertig gemäht werden!
Fotos: Mark Intelmann