Nicht das Handtuch werfen – Schulzentrum in Gyhum

    Veröffentlicht:

    Gyhum. Andreas Rasch, Jahrgang 1961, hat das durchlaufen, was er selbst eine typische Krankenpflegerbiographie nennt: nach dem Zivildienst in der Pflege „hängengeblieben“, Ausbildung zum examinierten Gesundheits- und Krankenpfleger, Notfallpfleger im Krankenhaus Bremen Ost, rund 20 Jahre Einsatz am Patienten. „Ich mochte meinen Beruf“, sagt er. „Ich habe viel erlebt: Menschen in Krisensituationen beigestanden, existentielle Erfahrungen gemacht. Aber irgendwann habe ich gemerkt: die Rahmenbedingungen verschlechtern sich.“ Seit 2010 führt Rasch, inzwischen diplomierter Pflegepädagoge, die Geschicke des Schulzentrums Gyhum – einer kleinen Privatschule, die Ausbildungen in drei Gesundheitsberufen anbietet: Als Altenpflegeschule 1992 gegründet, kamen später die Fachrichtungen Ergotherapie (1996) und Physiotherapie (2015) hinzu. Jüngste Neuerung: Seit April gehört die Einrichtung zur Oskar-Kämmer-Schule gGmbH (OKS), einem großen Bildungsträger mit Sitz in Braunschweig. „Der bisherige, lokale Trägerverein hatte den Wunsch geäußert, die Einrichtung abzugeben“, sagt Rasch. „Man sah sich dort den aktuellen Entwicklungen nicht mehr gewachsen.“„Wenn Systeme in die Krise kommen, entsteht immer auch die Chance auf Verbesserung.“ Es sind die Ausläufer eines nationalen Ausnahmezustandes, die auch vor Gyhum nicht haltmachen. Das Vertrauen der Deutschen in die Pflege ist erschüttert, in den unterbesetzten Heimen herrschen oftmals katastrophale Arbeitsbedingungen. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Von 23.000 unbesetzten Stellen ist die Rede. „Die Pflege in Deutschland fährt gegen die Wand“ – so lautete jüngst die Analyse des Pflegeexperten und Journalisten Gottlob Schober in einer Dokumentation der ARD. Schulleiter Rasch interpretiert die Lage anders. „Wenn Systeme in die Krise kommen, entsteht immer auch die Chance auf Verbesserung.“ Seine Devise: „Nichts schönreden, nichts dramatisieren.“ Der 56-Jährige wirkt fest entschlossen, in unübersichtlichen Zeiten nach Vorn zu denken. Beispiel: Trägerwechsel. „Mit der OKS konnten wir einen seriösen Partner gewinnen, der ein gewisses Standing mitbringt. Und dem es nicht um Profitmaximierung geht. Die OKS unterstützt das Schulzentrum vor allem in Sachen Öffentlichkeitsarbeit. Das neue Eingangsschild hängt, eine frische Homepage ist online, aktuelle Flyer sind gedruckt. Ein zeitgemäßes Marketing ist wichtiger denn je in Zeiten des großen Nachwuchsmangels: Rund 130 Schüler absolvieren derzeit ihre Ausbildung in Gyhum, Platz wäre für 225. Rasch gibt zu: Junge Leute nach Gyhum zu locken, das ist nicht leicht. „Wir genießen zwar einen guten Ruf als Ausbildungsstätte, aber der ländliche Standort bringt natürlich Nachteile mit sich, zum Beispiel weite Anfahrtswege mit dem Auto.“ Um dagegenzuhalten, setzt Rasch auf Innovation. Gerade verfolgt er den Plan, die relativ teuren vollschulischen Ausbildungsgang Physiotherapie in Gyhum künftig schulgeldfrei anbieten zu können. Die Idee: Die Schüler absolvieren Praktika in den Einrichtungen ausgewählter Kooperationspartner und unterstützen sie dadurch im Therapiealltag. Die Kooperationspartner übernehmen dafür das Schulgeld. Eine Win-win-Situation, sagt Rasch: „Die Ausbildung wird attraktiver, und die Einrichtungen lernen potentielle Bewerber für die Festanstellung kennen.“

    Absolventen ertragen die Zustände im Durchschnitt zwei Jahre, bevor sie das Handtuch werfen. Noch sei das neue Modell nicht in trockenen Tüchern, sagt Rasch. Und schon werfen weitaus größere Veränderung ihre Schatten voraus: Die Bundesregierung hat eine Reform der Pflegeberufe beschlossen. Künftig soll die Ausbildung generalistisch organisiert sein. Das heißt: Die Absolventen erhalten einen einheitlichen Berufsabschluss als „Pflegefachfrau“ oder „Pflegefachmann“. Mit diesem können sie anschließend in der Krankenpflege, der Kinderkrankenpflege oder der Altenpflege arbeiten. Die breitere Qualifizierung bietet den Arbeitnehmern mehr Optionen – eine von vielen Maßnahmen im Aktionspaket des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn, um die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor zu verbessern. „Grundsätzlich ist der Ansatz nicht falsch“, meint Rasch, der bereits dabei ist, das Curriculum für die neue Ära zu entwickeln. Ab 2020 soll auch in Gyhum generalistisch unterrichtet werden. „Dass der Dozentenmarkt im Bereich Pflege derart leergefegt ist, macht es natürlich nicht einfacher.“ Ob und wann die Reform der Pflege Wirkung zeigt, bleibt abzuwarten. Einstweilen versucht Gyhum, seine Schüler bestmöglich auf die mitunter bitteren Zustände in ihrer Branche vorzubereiten – Zustände, die Absolventen im Durchschnitt gerade einmal zwei Jahre ertragen, bevor sie das Handtuch werfen. Trotz der gegenwärtigen Krise bleibt Rasch optimistisch, dass die Politik einen Weg aus dem Pflegenotstand findet. „Junge Menschen müssen daran glauben, dass der Job wieder eine Zukunft hat“, sagt er. Denn die Pflege an sich, das sei immer noch ein schöner Beruf: vielseitig, anspruchsvoll, persönlichkeitsbildend und menschlich bereichernd. Eine wertvolles Gesamtpaket, auch im wirtschaftlichen Sinn: „Jeder Pflegeschüler erwirbt bis zum Examen Kenntnisse und Fähigkeiten im Wert von 20.000 Euro. Nach zwei Jahren im Job wächst dieses Vermögen auf 50.000 Euro an.“

    Fotos: Mark Intelmann

    Annette Freudling
    Annette Freudlinghttps://www.annette-freudling.de
    Studierte Kulturwissenschaften, Anglistik und Germanistik in Bremen. Lokaljournalistin, Redakteurin und Autorin. Privat verortet zwischen Kammerchor, Katzenhaar und Kneipenquiz. Geschichten mag sie am liebsten ohne Bart. Ansonsten findet sie Bärte aber ganz okay.
    ANZEIGE

    Weitere STARKE Artikel

    Hier kommt Alex – Alexander Krützfeld stellt sich vor

    Wir STARK-Redakteure erfahren es während der Teamsitzung: Das Magazin...

    Atlas von der Wehl – Service rund um die Uhr

    Lauenbrück. Service wird bei der Atlas von der Wehl...

    Steuerberater Peters & Partner – Kompetenz und persönliche Beratung

    Ob Umsatz- oder Gewerbesteuer, Fragen zur Erbschaftsteuer oder zur...
    ANZEIGE

    Folge uns!

    STARK auf Instagram