Das Jubiläum der vor 125 Jahren auf Basis der genossenschaftlichen Idee gegründeten Bank war Anlass genug, sich nicht nur selbst zu feiern, sondern die 1892 in die Waagschale geworfenen Werte Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung und Leitsätze wieder einmal lebendig und greifbar zu machen. Zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen prägten das Jubiläumsjahr, herausragend aber war der „Blickwechsel“, an den sich Mitarbeiter der Volksbank heran- trauten. Ziel war es, zu zeigen, dass der Einsatz der Volksbank über deren finanzielles Engagement hinausgeht. „Denn wer mit Menschen arbeitet, muss sich in Menschen hineinfühlen“, stellte Matthias Dittrich fest. Beim „Blickwechsel“ handelte es sich um eine Aktion, die sich dem Thema Mitmenschlichkeit, menschliche Wärme und Empathie verschrieb. Und das nicht nur theoretisch mit Schulungen oder Vorträgen, sondern in der Praxis anpackend. „Über den Tellerrand der Bank“ zu schauen und dabei den Menschen wahrnehmen, war die damit verbundene Absicht.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Volksbank tauschten Führungskräfte, Vorstand und Mitarbeiter ihre Schreibtische gegen Jobs von Pflegedienstpersonal in sozialen Einrichtungen und Naturschutz. In Echtzeit und unter realen Bedingungen standen sie ihren Mann auf unbekanntem, nicht vertrautem Terrain. Jeder der 28 „Blickwechsler“ arbeitete drei Tage bei Rotenburger Werken, Achimer Tafel, Seniorenresidenz K&S, Parzivalhof, Beeke Haus Scheeßel, Kinder- und Jugendheim Rotenburg, Kunsthochschule Ottersberg und Nabu. Fast 90 Arbeitstage stellte die Volksbank ihren Mitarbeitern dafüt zur Verfügung, aber auch das war so gewollt. Die Bilder lassen ihn nicht wieder los und sind immer wieder präsent, erzählt Dittrich über seine Zeit in der Wohngruppe Phönix in den Rotenburger Werken. Förderangebote für Menschen mit erworbener Hirnschädigung heißt deren genaue Beschreibung. Der Vorstand der Sottrumer Volksbank wusste worauf er sich mit dem Seitenwechsel einließ, er ahnte, dass diese Tage kein Zuckerschlecken würden. Aber gerade darum entschied er sich für eine Tätigkeit in einer sozialen Einrichtung. Grenzerfahrungen meiden, das ist nicht sein Ding. In seiner Heimatstadt Berlin machte er bereits ähnliche Erfahrungen bei einem „Blickwechsel“. Die Bilder dieser Erlebnisse holen ihn immer wieder ein. Aber auch das ist so gewollt, denn die Idee eines „Blickwechsels“ beinhaltet mehr als nur einen dreitägigen Ortswechsel, sondern eine echte Veränderung der Perspektive – ein Umdenken. Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, Arbeitsweisen wurden durch den Perspektivwechsel komplett auf den Kopf gestellt, mindestens aber kritisch hinterfragt. Dittrichs Blick auf das deutsche Sozial- und Gesundheitssystem hat sich zum Positiven gewandelt und für die im Sozialbereich arbeitenden Menschen entwickelte er großen Respekt.
Schon Tage vor „Dienstantritt“ in der Rotenburger Wohngruppe war er angespannt ob der neuen, unbekannten und fremdartigen Situation, auf die er sich eingelassen hatte. Die emotionale Spannung blieb während des gesamten Aufenthalts bestehen. Denn die in der Wohngruppe erlebten Schicksale der Bewohner, die komplette Veränderung deren persönlichen Umfelds und der Rückzug von Freundeskreis und Familie ging nicht spurlos an ihm vorüber. Und auch heute setzt ihm dies emotional noch sehr zu. „Das macht schon traurig“, sagt er voller Betroffenheit, die lange nachklingt. Und doch war es beeindruckend für ihn zu sehen, wie sich für die Menschen nach so gravierenden Schicksalsschlägen wieder neue Lebensperspektiven in den Rotenburger Werken entwickeln. Für das Projekt „Blickwechsel“ gewann die Volksbank acht soziale Einrichtungen und Naturschutzorganisationen, die sich zutrauten, neben ihrer Arbeit Nichtfachleute drei Tage in ihre Welt einzuführen. Kein leichtes Unterfangen von beiden Seiten. Denn als ungelernte Arbeitskräfte waren die Bankmitarbeiter eigentlich in dem straff durchorganisierten Tagesablauf der Pflegekräfte „überher“. „Man kommt sich manchmal sehr blöd vor“, beschrieb Vorstandsmitglied Dittrich die Situation. Er allerdings hatte mit seinem Gruppenleiter ganz besonderes Glück. Denn Jörg wollte dem Bankvorstand unbedingt und unmittelbar seine Welt zeigen, in der es zu wenig Betreuungsplätze für Menschen gibt, deren Einschränkungen durch Krankheit und Unfall hervorgerufen wurden. Aber auch die Darstellung der Situation des Pflegepersonals war dem Gruppenleiter ein Anliegen.
Zwar ausgeschrieben auf freiwilliger Basis, legte Dittrich Führungs- und Vorstandsmitgliedern den Positionswechsel besonders ans Herz. Die Meldungen für das Experiment überwältigten ihn dann sehr und überschritten aufgrund des Interesses – auch der Mitarbeiter – die vorhandenen 25 Plätze. Für ihren „Blickwechsel“ durften sie Wünsche äußern. „Jeder war nur für bestimmte Themen bereit“, sagte Vorstand Dittrich verständnisvoll, aber auch das war in Ordnung so. In einem waren sich alle Blickwechsler“ einig, die Wertschätzung für Berufe im sozialen Bereich und für die in diesen Berufen arbeitenden Menschen hat sich durch die Aktion deutlich erhöht. Für alle war es eine wertvolle Erfahrung, für die sie sehr dankbar sind. Dankbarkeit und Demut für das eigene Leben schwang in allen Berichten mit wie auch die Erkenntnis, dass sich Glück nicht ursächlich auf materielle Errungenschaften gründet. Es sei eine Art von Selbsterfahrung gewesen, gibt Dittrich zu. Denn man lerne sich selbst in solchen „Ausnahmesituationen“ besser kennen. „Es erdet einen gewaltig.“ Er wie auch viele seiner Kollegen und Mitarbeiter gehen nach dieser Erfahrung mit anderen Augen durch Welt. Dittrich, der die Wohngruppenmitglieder in Rollstühlen und mit Gehhilfen auf ihrem täglichem Arbeitsweg von Wohngruppe zur Arbeitsstätte begleitete, entwickelte eine besondere Sensibilität für „Barrieren“. Abgesenkter Bordstein ist heute nicht mehr, so Matthias Dittrich, gleich abgesenkter Bordstein. „Als nichtbehinderter Mensch nimmt man dieses Details, die manchmal eine unüberwindbare Hürde für Menschen mit Behinderung darstellen, nur selten aufmerksam wahr.“
Seine „Schicht“ begann während der drei Tage um 6 Uhr in der Frühe oder als Spätschicht ab 16 Uhr, vorher oder hinterher ging es dann ins Büro. Und das war auch gut so, denn die Bürozeit diente dem Vorstandsmitglied dazu, zu verarbeiten, sich auszurichten und vor allem, um Abstand zu gewinnen. Für viele Führungskräfte war diese Art des Seitenwechsels neu. Teilweise machten sie erstmals in einem Alter von 50 Jahren die Erfahrung, vom Schreibtisch in einen sozialen Beruf zu wechseln. Ganz besonders wichtig ist Matthias Dittrich, diese Erfahrung jungen Führungskräften zu ermöglichen. Für die Zukunft geplant ist, die Aktion „Blickwechsel“ in der Führungskultur der Volksbank zu implementieren. Es sei für jeden an jedem Punkt seiner Vita wichtig, sich neben sich zu stellen und verkrustete Strukturen zu überdenken, um den Blick für den Menschen und die Menschlichkeit zu behalten. „Und es wäre schade, wenn es sich nur um eine einmalige Aktion handeln würde.“
Carsten Wiemann, Leiter des Vertriebsmanagement, suchte eine ganz andere Art der Herausforderung. Ihm ging es um den ökologischen Gedanken, den er nicht mehr nur theoretisch, sondern mit der Schaufel in der Hand erleben wollte. 125 junge Apfelbäume spendete die Volksbank Wümme-Wieste im Rahmen des Jubiläums. Carsten Wiemann legte acht Stunden lang Hand an den Spaten, um die alten Apfelbaumsorten rechtzeitig vor dem ersten Frost in die Erde zu bringen. Da war Muskelkraft gefragt, am Ende ist er mit der Pflanzaktion noch nicht. Mit seinem Engagement tat er nicht nur Gutes für die Umwelt und die Region, sondern zeigte, was ein Anzugträger sonst noch so kann. Er ist Überzeugungstäter, denn der Naturschutz liegt ihm am Herzen. Denn er stellte sich nicht nur die Frage, was er für die Natur tun kann, um sie für die nachfolgenden Generation zu erhalten, sondern legte selber Hand an. Und das nicht nur zur Baumpflanzaktion der Volksbank, sondern in allen Bereichen seines täglichen Lebens. „Einfach mal das Licht ausschalten“, so ein Tipp. In Rotenburg war „Blickwechsel“ ein Pilotprojekt. „Es wäre auch für andere Unternehmen eine wichtige Erfahrung“, betonten Dittrich und Wiemann aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen. „Aber man ist beruflich schnell wieder im Tagesgeschäft“, darüber ist sich Dittrich absolut im Klaren, aber die Erfahrungen, die er und seine 27 Kollegen machten, kann ihnen niemand wieder nehmen. Die Rotenburger Werke und deren Führungskräfte signalisierten der Volksbank Interesse an einem Seitenwechsel. „Das Angebot steht“, so Dittrich.
Die Auseinandersetzung mit eigenen Verhaltensmustern und Wertvorstellungen aber auch das Hinterfragen von Arbeitsabläufen war Bestandteil der Aktion „Blickwechsel“. 28 Blickwechsler in der Volksbank Wümme-Wieste nutzten die Chance, hinter die Kulissen zu schauen. Heinz-Hermann Lückert und Erich Dilsky ließen sich die Augen von Dr. Hans-Bert Schikora von der Ökologischen Station Oste- Region für ihre ganz unmittelbare Umwelt öffnen. Sie tauschten ihren schwarzen Anzug gegen Gummistiefel und halfen bei der Entnahme von Bodenproben, Tiefenmessungen und dem Nachweis der Wasserspinne im Hemelsmoor. Der Blickwechsel eröffnete ihnen neue Horizonte und machte die Bedeutung der heimischen Moore für das Ökosystem plausibel. Martina Wurzel erlebte auf dem Hartmannshof viele hochmotivierte Bewohner und Mitarbeiter. Dazu auch Engagement weit über das Arbeitsverhältnis hinaus und eine Atmosphäre von positivem und humorvollem Miteinander.