Ortwin Musall: Ein Leben voller Kunst

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    Mulmshorn. Ein kurzer Moment, ein Augenblick, in dem moderne Kunst aus dem Grün von Birken und Wiese neben der Bundesstraße 75 auftaucht. „Kunst vor der Stadt“, das von dem Mulmshorner Bildhauer Ortwin Musall und der Kulturinitiative Rotenburg (KIR) ins Leben gerufene Projekt , durchbricht das Einerlei des Autoverkehrs, rückt kurz in das Bewusstsein, regt zum Nachdenken an. Vor mehr als zehn Jahren installierte Musall das erste Kunstwerk an der Bundesstraße. Das war im WM-Jahr 2006 als die Fußballmannschaft von Trinidad und Tobago ihr Quartier in Rotenburg aufschlug. Ortwin Musall kommentierte damit auf seine ganz spezielle Weise den Besuch der Karibikmannschaft in der Wümmegemeinde. Sein Name entstammt der Nibelungensage, seine Geschichte ist voller Wechsel und Brüche, sein Metier ist die Kunst und die empfängt Besucher bereits bei der Anfahrt auf Rotenburg. Geboren 1943 als Kriegskind wurde er früh zum Flüchtling. Sicher einer der Gründe dafür, dass ihn das Schicksal der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Afrika nicht kalt lässt. Verfehlen kann man Musalls Haus in Mulmshorn nicht, dafür müsste man schon blind sein. Übergroße Skulpturen aus Holz schon auf dem Grünstreifen vor seinem Grundstück sind sicheres Indiz für ein Künstlerhaus. Auf dem Weg vom Auto zur „Werkstatt“ weitere Holzskulpturen. Mittendrin der Holzbildhauer, der vor seiner Werkstatt unter freiem Himmel sein Werkstück bearbeitet. Es fliegen die Späne, wenn er mit Klüpfel und Stecheisen dem harten Wurzelholz zu Leibe rückt. Große Werkstücke bearbeitet er mit der Kettensäge. Seine Werkstatt ist unter freiem Himmel, in dem eigentlichen Werkstattraum, der Garage, lagern nur Werkzeuge. Denn draußen, so Musall, ist das Licht viel ausgeglichener. „Ich bin einfach ein Draußenmensch.“ Und daher schrecken ihn auch leichter Schneefall und Minustemperatur eher wenig. Dagegen helfen lange Unterhosen und Wollmütze. Kühne Windungen, organische Formen, in den Himmel strebende Verästelungen, aber auch Brüche und Brandmale sind Bestandteile seiner Formensprache. „Bäume, die sich gequält haben, haben ein ganz eigenes Lebensbild“, sagt der Mulmshorner Bildhauer über Verwachsungen und Maserungen in Kirsche, Ulme oder Eiche. Betitelt er die Kirschbaumskulptur mit „So vieles erlebt und durchlitten“, kommt der Titel nicht von ungefähr. „Das kann man auch von meinem Leben sagen“, so der 74-Jährige. Es sei nicht alles in den sieben Jahrzehnten gelungen, habe aber als Ganzes seine eigene Schönheit und sei damit in Ordnung“, resümiert er. 

    Wird in der Gegend ein Baum gefällt, heißt es immer öfter „Halt, stopp, erst Musall fragen“. So kam er auch an das Holz eines Mammutbaums. Die erste Begeisterung über das exotische Holz legte sich rasch. „Es ist wie Hartpappe, man kriegt es nicht richtig glatt“. Das sei kein Holz für Bildhauer, so das abschließende Ergebnis. Mehr als 500 Holzskulpturen schuf er, jede einzelne hat ihren ganz eigenen Titel. Die sind ihm wichtig, nicht nur notwendig zur eigenen Inventarisierung, und schnöde Nummern sind ihm zu blöd. Es seien seine Titel, betont der Mulmshorner Künstler mit ostpreußischen Wurzeln und norddeutscher Prägung. Für den Betrachter nicht bindend, dem lässt er Freiheit für eine eigene Deutung. Trotz alledem begrüßen Besucher die ausführlichen Bezeichnungen, bräuchten sie doch etwas zum „Reiben“, so Musalls Erfahrung. Viele seiner Skulpturen und Titel sind durchaus politischer, mindestens aber persönlicher Natur. „Andere schreiben Tagebuch, ich haue es in Holz.“ So nimmt er mit „Amerika brennt“ direkt Bezug auf die letzten Präsidentschaftswahlen. Obwohl seine Kunstwerke politische Statements beinhalten, geht er mit seiner Kunst nicht bierernst um und ist daher auch nicht beleidigt, wenn Besucher die Amerika-Skulptur zum Sitzmöbel umfunktionieren wollen.

    Die Preise für seine Holzobjekte gestaltet Musall moderat, weil er möchte, dass sie in die Welt hinaus gehen. Zu seinen Ausstellungsorten gehören nicht nur der um sein Haus gelegene Skulpturengarten, Galerien wie die Mahlstedter Mühle und die Empfangshalle eines Weinguts an der Mosel, sondern eben auch das wilde Grün an der Bundesstraße 75. Lange Zeit „bespielte“ nur der Mulmshorner Künstler die grüne Wiese. 2010 gewann er den Ottersberger Bildhauer Walter Peter mit dessen 60 Meter langer und zwölf Meter hoher Installation „Windtänzer“ für die Brache. Mit der Bildnerischen Werkstatt der Rotenburger Werke erhielt Ortwin Musall nun weitere künstlerische Unterstützung, jetzt hofft er auf weitere Künstler aus dem Rotenburger Raum. Nur eine einzige Skulptur oder Installation kann das Auge in Sekundenschnelle beim Vorbeifahren mit 80 Stundenkilometer erfassen Und es braucht, um „Kunst vor der Stadt“ zu sein, eine gewisse Mindestgröße. Kunterbunt und haushoch ist die derzeitige Installation „Mandys Haus“ nach Vorlage von Mandy Jetten. beste Voraussetzung also für „Kunst vor der Stadt“.

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    Immer aber macht Musall auch an dieser exponierten Stelle politische Statements. Hieß ein buntes Holzobjekt, das er an der Umgehungsstraße aufstellte anfangs noch „Schatztruhe“, nannte er es im Zuge der Diskussion um Flüchtlinge 2016 um in „Schönheit durch Vielfalt“. Ein State- ment. Er wundere und freue sich, wie intensiv „Kunst vor der Stadt“ wahrgenommen werde. „Ich freue mich jeden Morgen, dass ich an dieser Stelle vorbeifahren darf“, so eines der Bekenntnisse von Autofahrern, die den ungewöhnlichen Kunstort regelmäßig passieren. Die Erfahrung zeigt, dass an diesem Ort Menschen einen Zugang zu Kunst erhalten, die sonst nicht so sehr in der Kunstszene verhaftet sind. Jeden Tag kommen auf diese Weise mehrere Tausend Menschen mit Kunst in Berührung, eine faszinierende Idee. Der Platz sei einfach genial, sagt Musall, er habe immer Licht und Sonne und die Kunstwerke sind im Spätsommer von einem Meer aus Goldrute umgeben. Einen Obolus kann die Stadt Rotenburg den ausstellenden Künstlern nicht gewähren, dafür aber jede Menge tatkräftige Unterstützung durch den Bauhof. Die Fortsetzung von „Kunst vor der Stadt“ ist, wenn die Kunst in die Stadt hineinwandert, so geschehen mit dem Geschenk einer Musall-Holzskulptur vom Chor „Stimmbande“ aus Bothel an die Stadt Rotenburg, der die „Klangstrahlen“ erwarb und in der Ahe platzierte.
    Es ist ein ganz besonderes Ehrenamt, das Musall mit der künstlerischen Bestückung der Bundesstraßenwiese übernahm. Jetzt hofft er, mit der Bildnerischen Werkstatt unter Leitung von Martin Vosswinkel einen „Nachfolger“ gefunden zu haben, der die grüne Wiese vor den Toren Rotenburgs weiterhin künstlerisch betreut und damit die Fortführung des Projektes „Kunst vor der Stadt“ gewährleistet. Ohne Anmeldung und auch ohne zu klingeln können Besucher um Musalls Haus laufen. Denn es ist ein „offener“ Skulpturengarten, darauf legt der Mulmshorner Künstler großen Wert. In dem verwunschenen Garten haben Besucher Gelegenheit, auch Bundesstraßenskulpturen aus nächster Nähe und in aller Ruhe zu betrachten. Die Ausstellungsstücke wechseln, einiges sei bedingt durch die Witterung jenseits von Gut und Böse. Aber auch das gehört zum künstlerischen Konzept von Musall.

    Zu sehen gibt es allemal genug, auch in der „Hausgalerie“. Der Gang durch den Skulpturengarten ist wie eine Zeitreise durch die Politik der letzten Jahrzehnte. Ob Flüchtlingskrise, 50. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkriegs, Fukushima oder die Piratenpartei, alles reizt Musall. „Das waren Sachen, bei denen ich spontan etwas machen musste“, erklärt er seine Intention, Säge, Klüpfel und Stecheisen in die Hand zu nehmen. Tage, an denen er kein Holz in den Händen hält, sind selten, kommen aber vor. Nur die ganz großen Stücke von acht Tonnen und mehr, die versagt er sich mittlerweile. Seine Pläne für die Zukunft aber stehen immer noch mit Holz in Verbindung, auch wenn er immer mehr merkt, dass Älterwerden auch Altwerden bedeutet. Ganz aktuell reizen Ortwin Musall die dem Sturm zum Opfer gefallenen alten Bäume.

    Fotos: Thomas Kusch

    Sabine von der Decken
    Sabine von der Decken
    Geboren 1957 in Nordrhein-Westfalen, Studium der Diplom-Biologie in Bremen und Oldenburg. Seit mehr als 20 Jahren freie Mitarbeiterin Weser Kurier Bremen, arbeitet zudem für Fachmagazine wie Land und Forst und Gartenbauprofi.
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