Wird in der Gegend ein Baum gefällt, heißt es immer öfter „Halt, stopp, erst Musall fragen“. So kam er auch an das Holz eines Mammutbaums. Die erste Begeisterung über das exotische Holz legte sich rasch. „Es ist wie Hartpappe, man kriegt es nicht richtig glatt“. Das sei kein Holz für Bildhauer, so das abschließende Ergebnis. Mehr als 500 Holzskulpturen schuf er, jede einzelne hat ihren ganz eigenen Titel. Die sind ihm wichtig, nicht nur notwendig zur eigenen Inventarisierung, und schnöde Nummern sind ihm zu blöd. Es seien seine Titel, betont der Mulmshorner Künstler mit ostpreußischen Wurzeln und norddeutscher Prägung. Für den Betrachter nicht bindend, dem lässt er Freiheit für eine eigene Deutung. Trotz alledem begrüßen Besucher die ausführlichen Bezeichnungen, bräuchten sie doch etwas zum „Reiben“, so Musalls Erfahrung. Viele seiner Skulpturen und Titel sind durchaus politischer, mindestens aber persönlicher Natur. „Andere schreiben Tagebuch, ich haue es in Holz.“ So nimmt er mit „Amerika brennt“ direkt Bezug auf die letzten Präsidentschaftswahlen. Obwohl seine Kunstwerke politische Statements beinhalten, geht er mit seiner Kunst nicht bierernst um und ist daher auch nicht beleidigt, wenn Besucher die Amerika-Skulptur zum Sitzmöbel umfunktionieren wollen.
Die Preise für seine Holzobjekte gestaltet Musall moderat, weil er möchte, dass sie in die Welt hinaus gehen. Zu seinen Ausstellungsorten gehören nicht nur der um sein Haus gelegene Skulpturengarten, Galerien wie die Mahlstedter Mühle und die Empfangshalle eines Weinguts an der Mosel, sondern eben auch das wilde Grün an der Bundesstraße 75. Lange Zeit „bespielte“ nur der Mulmshorner Künstler die grüne Wiese. 2010 gewann er den Ottersberger Bildhauer Walter Peter mit dessen 60 Meter langer und zwölf Meter hoher Installation „Windtänzer“ für die Brache. Mit der Bildnerischen Werkstatt der Rotenburger Werke erhielt Ortwin Musall nun weitere künstlerische Unterstützung, jetzt hofft er auf weitere Künstler aus dem Rotenburger Raum. Nur eine einzige Skulptur oder Installation kann das Auge in Sekundenschnelle beim Vorbeifahren mit 80 Stundenkilometer erfassen Und es braucht, um „Kunst vor der Stadt“ zu sein, eine gewisse Mindestgröße. Kunterbunt und haushoch ist die derzeitige Installation „Mandys Haus“ nach Vorlage von Mandy Jetten. beste Voraussetzung also für „Kunst vor der Stadt“.
Immer aber macht Musall auch an dieser exponierten Stelle politische Statements. Hieß ein buntes Holzobjekt, das er an der Umgehungsstraße aufstellte anfangs noch „Schatztruhe“, nannte er es im Zuge der Diskussion um Flüchtlinge 2016 um in „Schönheit durch Vielfalt“. Ein State- ment. Er wundere und freue sich, wie intensiv „Kunst vor der Stadt“ wahrgenommen werde. „Ich freue mich jeden Morgen, dass ich an dieser Stelle vorbeifahren darf“, so eines der Bekenntnisse von Autofahrern, die den ungewöhnlichen Kunstort regelmäßig passieren. Die Erfahrung zeigt, dass an diesem Ort Menschen einen Zugang zu Kunst erhalten, die sonst nicht so sehr in der Kunstszene verhaftet sind. Jeden Tag kommen auf diese Weise mehrere Tausend Menschen mit Kunst in Berührung, eine faszinierende Idee. Der Platz sei einfach genial, sagt Musall, er habe immer Licht und Sonne und die Kunstwerke sind im Spätsommer von einem Meer aus Goldrute umgeben. Einen Obolus kann die Stadt Rotenburg den ausstellenden Künstlern nicht gewähren, dafür aber jede Menge tatkräftige Unterstützung durch den Bauhof. Die Fortsetzung von „Kunst vor der Stadt“ ist, wenn die Kunst in die Stadt hineinwandert, so geschehen mit dem Geschenk einer Musall-Holzskulptur vom Chor „Stimmbande“ aus Bothel an die Stadt Rotenburg, der die „Klangstrahlen“ erwarb und in der Ahe platzierte.
Es ist ein ganz besonderes Ehrenamt, das Musall mit der künstlerischen Bestückung der Bundesstraßenwiese übernahm. Jetzt hofft er, mit der Bildnerischen Werkstatt unter Leitung von Martin Vosswinkel einen „Nachfolger“ gefunden zu haben, der die grüne Wiese vor den Toren Rotenburgs weiterhin künstlerisch betreut und damit die Fortführung des Projektes „Kunst vor der Stadt“ gewährleistet. Ohne Anmeldung und auch ohne zu klingeln können Besucher um Musalls Haus laufen. Denn es ist ein „offener“ Skulpturengarten, darauf legt der Mulmshorner Künstler großen Wert. In dem verwunschenen Garten haben Besucher Gelegenheit, auch Bundesstraßenskulpturen aus nächster Nähe und in aller Ruhe zu betrachten. Die Ausstellungsstücke wechseln, einiges sei bedingt durch die Witterung jenseits von Gut und Böse. Aber auch das gehört zum künstlerischen Konzept von Musall.
Zu sehen gibt es allemal genug, auch in der „Hausgalerie“. Der Gang durch den Skulpturengarten ist wie eine Zeitreise durch die Politik der letzten Jahrzehnte. Ob Flüchtlingskrise, 50. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkriegs, Fukushima oder die Piratenpartei, alles reizt Musall. „Das waren Sachen, bei denen ich spontan etwas machen musste“, erklärt er seine Intention, Säge, Klüpfel und Stecheisen in die Hand zu nehmen. Tage, an denen er kein Holz in den Händen hält, sind selten, kommen aber vor. Nur die ganz großen Stücke von acht Tonnen und mehr, die versagt er sich mittlerweile. Seine Pläne für die Zukunft aber stehen immer noch mit Holz in Verbindung, auch wenn er immer mehr merkt, dass Älterwerden auch Altwerden bedeutet. Ganz aktuell reizen Ortwin Musall die dem Sturm zum Opfer gefallenen alten Bäume.
Fotos: Thomas Kusch