Einen Monat dauerte die Bewilligung seines Visumantrags zur Einreise nach Deutschland. Eigentlich aber war Frankreich das Land seiner Wahl, in das er mit seiner Frau Hala und seinen zwei kleinen Töchtern vor vier Jahren auswandern wollte. Das Leben in Damaskus war, erinnert er sich. Jeden Tag gab es Raketenangriffe. Jeden Tag war es nicht sicher, ob er den Weg von und zur Universität unbeschadet überstehen würde. Seine Arbeit als Universitätsdozent für französische Literatur liebte er, war angesehen und anerkannt und wirtschaftlich abgesichert. Eigentlich wäre er am liebsten geblieben. Die sich ständig verschärfende Situation in Syrien aber machte ein Umdenken nötig. Aufgrund seines Studiums in Frankreich, seines fließenden Französisch und der zwölfjährigen Tätigkeit als Lehrer für französische Literatur verstand er sich als Botschafter Frankreichs. Die Franzosen sahen das anders. Mehrmals nahm er den unsicheren Weg zur französischen Botschaft in Beirut im Libanon auf sich. Trotz Rufs an eine französische Universität aber erhielt Samer Tannous kein Visum.
Eigentlich traute er sich im Alter von 47 Jahren nicht mehr zu, komplett eine neue Sprache zu erlernen. Denn deutsch konnte er kein einziges Wort obwohl sein Bruder seit zwölf Jahren als Zahnarzt in Rotenburg praktiziert. Die Alternativlosigkeit und der Anspruch, schneller als alle anderen zu lernen, war sein Antrieb. Nicht eine Stunde pro Tag, sondern Tag und Nacht lernte Samer Tannous deutsch. Vier Monate intensivster Arbeit im Internet und mit Grammatikbüchern brauchte es, dann hatte er sich die Grammatik angeeignet. „Wo kann ich deutsch sprechen?“, so die nächste Aufgabe, der er sich stellte. Sein Angebot: Französisch gegen deutsche Konversation. Mit Elmar Wagener, Oberstudiendirektor a.D. des St. Viti Gymnasium Zeven, fand er den richtigen Partner. „Ich wollte kein Geld vom Staat“, so sein Anspruch. Sechs Monate hospitierte Tannous mit Unterstützung von Schulleiter Sven Thiemer an der IGS Rotenburg. Nun arbeitet er als Vertretungslehrer an der Realschule Rotenburg und der Beekeschule in Scheeßel. „Gute Schüler gibt es in Syrien wie auch in Deutschland“, sagt der Hochschuldozent, der gerade das C1-Zertifikat des Goethe-Instituts ablegt. In Deutschland allerdings seien die Schüler deutlich selbstbewusster, in Syrien erkennen sie Autorität an. Integration ist für Samer Tannous aufgrund seines langen Auslandsaufenthalts in Frankreich nie ein Problem gewesen, ein Thema aber schon. Derjenige, der niemals die Grenzen seines eigenen, kleinen Lebensraums verlassen hat, für den sei Integration ein Problem, so Tannous Meinung. Ihm als Intellektuellen hilft seine geistige Beweglichkeit. Man könne zwar nicht generalisieren, aber ihm haben Literatur und Romane beim Verständnis anderer Kulturen sehr geholfen. „Das hat mit Lust und mit starkem Willen zu tun“, macht er deutlich. Den hat er. Vom ersten Tag an hat Samer Tannous beschlossen, in Deutschland richtig anzukommen. Sprachkompetenz ist dazu der Schlüssel. Toleranz, Solidarität und Freiheit sind drei Schlüsselwörter. „Integration ist nicht einfach“, gibt er zu. Sie brauche viel Flexibilität und die Fähigkeit, sich Gedanken machen zu können. Die Deutschen haben die Türen geöffnet, Kurse und Ausbildungen angeboten. Die Flüchtlinge aber müssten die Chance nutzen, so seine Meinung. Immer wieder gibt er Statements ab. So wie: „Integration ist mehr als Arbeit, es ist ein Gefühl und man muss Danke sagen.“
Religion sei für ihn nicht so wichtig. Dafür aber der Umgang mit Menschen, das sei seine Religion. Ehefrau Hala, Arabischlehrerin, ist ihm einen Schritt voraus. Zwar lernte sie von und mit ihm deutsch. Aber sie ist jetzt dabei, den Führerschein zu machen und darauf ist Samer Tannous sehr stolz. Sein Leben ist stressiger geworden in den letzten vier Jahren, denn er hat viel zu tun und läuft der Zeit hinterher. Dazu der „Kulturschock“ von der Vier-Millionen-Einwohnerstadt Damaskus in das beschauliche Rotenburg zu ziehen. Die Betriebsamkeit der Millionenstadt fehlt ihm. Und täglich stellen sich obwohl und gerade weil er und seine Familie so gut integriert sind, neue Fragen. „Sei höflich, stark, hab Spaß, sei hilfsbereit und melde dich“, gibt er tagtäglich seinen Töchtern mit auf den Schulweg. Gute Noten sind für ihn selbstverständlich. Trotzdem kommt er wie jeder Vater an seine Grenzen. Ist es die andere Kultur oder einfach nur der ganz normale Familienwahnsinn mit der Pubertät? Vor dieser Frage steht er zurzeit immer wieder.
Fotos: Mark Intelmann