Zum Glück schreiben wir nicht für „Physiotherapie heute“ (falls ein Fachblatt mit diesem Namen überhaupt existiert). Deswegen müssen wir uns um Bandscheibe und Iliosakralgelenk keine Gedanken machen und können die Performance auf der Saalbühne des Verdener Domgymnasiums einfach nur genießen. Geprobt wird Schuberts Forellenquintett. Nabil Shehata steht am Kontrabass. Besser: Er tanzt mit ihm, eine hochkonzentrierte Choreographie in Zwiesprache mit dem Pianisten. Beim Führen des Bogens beugt er sich weit über die hölzerne Schulter nach vorne und entlockt dem Instrument seine tiefe, warme, berührende Stimme, die scheinbar mühelos in Resonanz mit dem Zuhörer geht. Bis der Pausengong ertönt und den Schubertklang einmal gründlich durchschüttelt. Die Szene ist Teil eines besonderen Klassik-Events, das sich in wenigen Jahren zum Publikumsmagneten gemausert hat.
Draußen auf dem Gang werden Stimmen und Fußgetrappel laut, ein Schülergesicht linst durch die geöffnete Tür. Die erste „Maiklänge“-Probe ist vorbei, zehn Minuten eher als geplant. Shehata bleibt Zeit für einen Schluck Limonade und für eine Dosis des ganz normalen Konzert-Wahnsinns: Auf dem Weg aus Brasilien ist Bratschist Adrien de la Marca in Paris gestrandet. Der Weiterflug nach Hannover – ersatzlos gestrichen. „Irgendwas Unvorhergesehenes passiert immer“, meint Shehata achselzuckend, bevor er ohne großes Aufheben in die Rolle als Krisenmanager wechselt. Einen kurzen Anruf später hat er seinen Musiker-Freund gebeten, den Alternativflug nach Hamburg zu nehmen („We organize someone to pick you up.“) und ist wieder ganz im Hier und Jetzt. „Gelassenheit kommt nicht vom Musizieren. Das ist eine Lebenseinstellung“, meint Shehata. „Für jedes Problem findet sich eine Lösung. Und wenn nicht, dann ist es eben so.“
Wenn Shehata sich selbst beschreiben soll, fallen ihm zwei Eigenschaften ein. „Ich bin geduldig. Vor allem mit anderen, wenn auch nicht immer mit mir. Und ich bin ausdauernd. In meiner Branche muss man den langen Atem haben.“ Diese Ausdauer hat Nabil Shehata bereits in jungen Jahren ganz nach oben gebracht. Der Sohn deutsch-ägyptischer Eltern, 1980 geboren, erhielt mit sechs Jahren den ersten Klavierunterricht von seiner Mutter. „Später sollte ich Cello lernen, aber dagegen setzte ich mich zur Wehr.“ Grund war, dass eine Melodie aus dem Radio es dem Jungen angetan hatte – ein schwerer Fall von Liebe auf den ersten Ton. „Genau dieses Instrument wollte ich auch spielen. Ich hielt es für einen Kontrabass. Damit stand mein Entschluss fest.“ Mit 14 wusste Shehata, dass er Berufsmusiker werden wollte. Ein Entschluss, von dem sein Kontrabass-Lehrer Thomas Zscherpe ihm dringend abriet. „Er wollte mir eine schwierige Zukunft ersparen. 70 Prozent der Menschen in unserer Branche sind unzufrieden, leider ist das die Realität. Attraktive Stellen in großen Orchestern sind rar gesät.“
Shehata setze seinen Kopf durch, und der Erfolg gab ihm recht. Er machte sich weltweit einen Namen als Solo-Bassist, spielte viele Jahre bei den Berliner Philharmonikern und im „West-Eastern Divan Orchestra“ von Daniel Barenboim, bevor er 2006 (mit 26 Jahren) auf die andere Orchesterseite wechselte: Er begann eine zweite Laufbahn als Dirigent. Auf Barenboims Anraten hin belegte er Meisterkurse bei befreundeten Dirigenten und eignete sich die Orchesterleitung „learning by doing“ an. „Im Nachhinein bin ich froh, dass ich das Fach nicht studiert habe“, sagt er. „An der Hochschule lernt man zwar alle Standardsituationen, aber auch viele Ansätze, die inzwischen vielleicht ein bisschen überholt sind. Ab 2007 hatte ich dann meine ersten vereinzelten Engagements als Dirigent. Das war wie der sprichwörtliche Sprung ins kalte Wasser, schließlich hat man zu Hause kein Orchester zum Üben …“
Seit der Saison 2019/2020 leitet er das Philharmonische Orchester Südwestfalen in Siegen. Seine Ziele hat er erneut hochgesteckt: „Als Dirigent möchte ich dahin kommen, wo ich als Solist schon gewesen bin. Das heißt: von großen internationalen Orchestern angefragt werden: Frankfurt, Leipzig, Dresden, New York, Wien.“ Wieder ein Fall für den langen Atem, sagt der 41-Jährige. „Es ist ein ganz anderer Karriereweg. Nur weil man ein guter Kontrabassist ist, wird man nicht automatisch als Dirigent akzeptiert. Es ist eher umgekehrt: Je besser man als Solist war, desto schwerer ist der Wechsel. Das ging selbst Daniel Barenboim so, der lange Zeit hauptsächlich als Pianist wahrgenommen wurde.“ Er denke positiv darüber, sagt Shehata: „Ich nehme mir die Zeit, die es braucht. Wir Musiker haben viele Jahre, um Karriere und Lebensweg zu gestalten – verglichen mit Fußballprofis. Auf dem Rasen ist ja schon mit 35 Jahren Schluss.“ Noch zwei bis fünf Jahre bleibt Shehata in Siegen. Dann heißt es: umziehen. In eine neue Stadt, ein neues Land, vielleicht sogar auf einen anderen Kontinent. Als Dirigent gehören befristete Engagements zum Berufsbild.
Hat der Musiker nie darüber nachgedacht, irgendwo Wurzeln zu schlagen? Doch, gibt er zu. „Bis vor anderthalb Jahren habe ich überlegt, sesshaft zu werden. Jetzt bin ich glücklich mit meiner Entscheidung, mich nicht an einen festen Wohnsitz zu binden. Ich bin da, wo ich bin – ein musikalischer Nomade. Das ist ein sehr gutes Gefühl.“
Zurück zu den Maiklängen: Die Kammermusiktage 2022 bringen acht Künstler und eine Künstlerin in die Domstadt. In fünf Tagen stehen rund 30 Stunden Probe und vier Konzerte auf dem Programm, die Matinee am Sonntag wird vom Radio aufgezeichnet.
Trotz des strammen Zeitplans kommen die international gefragten Solisten gerne nach Verden und nehmen dafür sogar eine Reise um den halben Globus in Kauf. Es sind Shehatas Weggefährten – Bekannte und Freunde aus gemeinsamen Projekten, die sich darauf freuen, gemeinsam Zeit in entspannter Atmosphäre zu verbringen. Und mit viel Glück entsteht beim Eintauchen in die Musik noch etwas anderes, Kostbares: einer dieser Gänsehautmomente, die mehr transportieren als den vom Komponisten vorgesehenen Akkord.
Magie! „Solche Augenblicke sind selten, im Kammerensemble genauso wie im Orchester“, sagt Shehata. „Das kann eine Klangfarbe sein oder ein besonderes Timing. Die Kunst ist, solche Momente zuzulassen. Die Werke zu lernen, immer wieder zu üben und zu wiederholen, und dann im richtigen Moment alles zu vergessen. Loszulassen. Als würde man sich einem Tagtraum hingeben.“ Überall auf der Welt zu Hause sein, an jedem Ort neue Freunde finden und gleichzeitig den Kontakt zu wichtigen Menschen pflegen – das gehört zum Leben als musikalischer Nomade dazu. Shehata hat eine bewährte Methode, sich regelmäßig mit verstreut lebenden Bezugspersonen auszutauschen und gleichzeitig von der künstlerischen Arbeit abzuschalten: Zusammen online Playstation spielen und dabei telefonieren.
Fotos: Arne von Brill