Idris Kuslu ist Mitglied der Moschee-Gemeinde in Rotenburg. Sie besteht seit 1981. Die ersten türkischen Gastarbeiter hatten sich im deutsch-türkischen Gastarbeiterverein getroffen, dessen Räume an der Gartenstraße lagen. Die Gemeinde der Kleinen Aya Sofia-Moschee ist ein eingetragener Verein; das stärkt den Zusammenhalt und ist zugleich eine gute Basis, um – durch die Vorstandsmitglieder – die Gemeinde nach außen, etwa gegenüber Behörden, zu vertreten.
Zurzeit besteht die aktive Gemeinde aus circa 120 Männern und Frauen, dazu Kinder und Jugendliche. Finanziell getragen wird sie von den freiwilligen Spenden der Mitglieder. Zu den Freitagsgebeten versammeln sich gut 200 Muslime, das sind 60 bis 70 Prozent der in Rotenburg lebenden Muslime. Verändert hat sich seit 2015 die Zusammensetzung der Gemeinde. Seitdem sind Syrer und Afghanen hinzugekommen. Das heißt: Es beten auch ca. 30 Schiiten (z.B. Afghanen) mit den – türkischen – Sunniten. Idris Kuslu weiß, dass sich in manchen Ländern Sunniten und Schiiten heftig bekriegen; in Afghanistan fallen regelmäßig Schiiten Attentaten zum Opfer. Dazu sagt Kuslu: „Gewalt hat in unserem muslimischen Glauben nichts verloren!“
Wer zum ersten Mal die Moschee in Rotenburg betritt, sieht den großen Gebetsraum für Männer, den kleineren für Frauen und das kleine Spielzimmer für die Kinder. Ein hübsch gestalteter Kindergarten der Moscheegemeinde ist nur 200 Meter entfernt. Und womit der fremde Besucher vielleicht nicht gerechnet hat: Er sieht neben einem gut sortierten Lebensmittelgeschäft auch eine Frisierstube. Warum das? „Wer zum Gebet kommt“, sagt Idris, „muss einen gepflegten Bart tragen.“ –
Später, in der Moschee in Achim, erfahre ich von Ilhami Yoldas, dass es Moscheen mit diesen Ausstattungen und Einrichtungen nur in Deutschland gibt. Der Grund: Die Türken sollten in der Fremde eine Heimat haben. So ist die Moschee weit mehr als ein Gebetshaus – sie ist ein Gemeindezentrum und unterstreicht damit den gemeinschaftsstiftenden Charakter des muslimischen Glaubens. Dazu zitiert Idris Kuslu den Weisheitsspruch, das Gebet in der Gemeinschaft sei vor Allah 27 Mal mehr wert als das Gebet, das allein vollzogen werde. Einige Tage später begegne ich vor der Moschee Onur Kaya. Wir kommen ins Gespräch und sofort merke ich, Kaya, 36 Jahre alt, ist erfüllt von seinem Glauben und eifrig dabei, mich in die Tiefen des Islam einzuführen. Begeistert erzählt er von der Wahrheit des Korans, weist auf den wunderbaren Aufbau der Suren hin: „Die 16. Sure, sie heißt „Die Bienen“, ist nicht zufällig an 16. Stelle im Islam. Die männliche Biene hat 16 Chromosomen!“ Zur Zeit lernt Onur Kaya, der bei Ytong als Maschinenführer tätig ist, Arabisch, um den Koran in seiner Ursprungssprache lesen und verstehen zu können.
Mit Onur Kaya spreche ich auch über die Rolle von Mann und Frau im Islam. Ich erwähne die getrennten Gebetsräume, die Pflicht der Frau, das Haar zu bedecken (Sure 24 und 33). Ich frage ihn auch, warum Männer und Frauen selbst bei Hochzeiten nicht gemeinsam, sondern in getrennten Räumen tanzen sollen. Kaya, der verheiratet ist, versucht mit großer Geduld, mir diese Gebote zu deuten. Grundsätzlich sei es die Pflicht des Mannes, die Frau zu beschützen. Damit sie sich wohlfühlen könne, solle man alles, was ihr Wohlbefinden stören könnte, von ihr fernhalten. Denn kein Mann sei ohne Fehler. Er könne 20 Jahre und länger fehlerlos leben, doch eines Tages könnte er schuldig werden, weil er eine fremde oder verheiratete Frau berührt hat. Vor solchen Fehltritten gilt es die Frau – „Das Schönste, was Allah geschaffen hat“ (Onur Kaya) – zu schützen. In einem weiteren Gespräch kommt Halim Özdemir vom Vorstand des Moschee-Vereins dazu und meint, man müsse bedenken: Als im 7. Jahrhundert im Koran die Würde und der Schutz der Frau in der islamischen Gesellschaft festgeschrieben worden sei, geschah dies in einem Umfeld, in dem die Frau vorher völlig recht- und schutzlos gewesen sei.
Alle Gesprächsteilnehmer betonen immer wieder: Es gibt keinen Zwang im Islam. Dasselbe gelte für die Erziehung der Kinder. So unterstreicht Ilhami Yoldas von der Moschee-Gemeinde in Achim die Bedeutung der Familie als Stätte der Prägung von Überzeugungen und Traditionen. Die Familie sei die Keimzelle der Gemeinschaft der Muslime. Darum habe die Familie unter unseren Nachbarn mit türkischen Wurzeln eine so große Bedeutung. Hier werde Glauben weitergegeben – oder auch nicht. Ilhami Yoldas vom Vorstand des Kulturvereins Achimer Muslime (KAMU e.V.) an der Ravza Camii-Moschee in Achim, Hasseler Straße 21, erzählt von seiner Familie: Er ist 53 Jahre alt und arbeitet in dem Achimer Unternehmen Contec (Network-Design), hat mit seiner Frau Serife zwei Söhne und zwei Töchter. Serife ist zertifizierte Tagesmutter und arbeitet als Hauswirtschaftskraft in einem kommunalen Kindergarten. Die vier Kinder haben am Achimer Cato Bontjes van Beek-Gymnasium ihr Abitur gemacht. Dort war Yoldas jahrelang in der Elternvertretung aktiv. Eine Tochter studiert jetzt in Köln Sonderpädagogik für das Lehramt. In die Seminare gehe sie selbstverständlich mit Kopfbedeckung. Zwei der Söhne studieren in Hamburg, einer davon Medizin; ihr Glaubensmittelpunkt sei die Centrums-Moschee in Hamburg-St. Georg. Ilhami Yoldas betont, dass seine Familie in Achim keine Einzelerscheinung für gelungene Integration sei, sondern der Normalfall. Und fügt hinzu: „Ein türkischer Zuwanderer ist dann integriert, wenn er über einen deutschen Witz lachen kann.“
Von den 30 000 Einwohnern Achims sind etwa 1200 erwachsene Muslime. Die Moschee-Gemeinde hat 180 Mitglieder. An besonderen Festtagen kommen auch schon mal 400 Gläubige zum Gebet und Essen zusammen. Ilhami Yoldas betont: Muslimischer Glaube und gesellschaftliche Teilhabe schließen sich nicht aus. Der Verein KAMU fördere die Kooperation mit Institutionen, Vereinen und Gemeinschaften des gesellschaftlichen Lebens in Achim. Man nehme am jährlichen Stadtfest teil. Er selbst halte Vorträge bei Organisationen und Verbänden. Zu Coronazeiten leitete ein muslimischer Arzt in den Räumen der Moscheegemeinde ein gern frequentiertes Testzentrum.
Der besondere Stolz der Achimer Muslime ist die 2021 eröffnete neue Ravza Camii-Moschee. Den Bau haben viele in der Gemeinde mit Eigenleistungen und großzügigen Geldspenden unterstützt. Dieser Moscheebau sei ein Zeichen von Integration. Denn wie sagt Ilhami Yoldas? „Wer baut, der bleibt!“ Neben dem wunderschönen zweigeschossigen 180 Quadratmeter großen Gebetsraum sehe ich auch hier wieder Gruppenräume für Kinder und Jugendliche, Funktionsräume und einen 240 Quadratmeter großen Saal, der auch als Jugendlokal dient.
Fotos: Arne von Brill