Tanz aus Leidenschaft

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    Juni 1989. Am Hamburger Hauptbahnhof rollt der Zug los in Richtung DDR. Drinnen die Eltern, die gemeinsam mit ihrer Tochter ihren Verwandtenbesuch im Westen beendet haben und zurück nach Rostock fahren. Doch die Tochter steigt nicht ein. Denn Ines Güttel, Anfang 20, will im Westen bleiben. Ausgerüstet mit einer kleinen Reisetasche und 3 DM (West). Nun liegt der erste Lebensabschnitt hinter der jungen Künstlerin… 

    Mit 15 Jahren Beginn der Balletttänzerinnenausbildung an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. Ihr erstes Engagement dann ab dem 18. Lebensjahr am Landestheater Mecklenburg- Vorpommern in Neustrelitz. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Theaters wohnten „wie eine Familie“ unter einem Dach in einem ehemaligen Hotel, wohl 100 Menschen. Ines teilte sich ihr Zimmer mit einer Maskenbildnerin. Hier tanzte sie u.a. 39 Mal in „My Fair Lady“. Um zur Spitze der Ballett-Tänzerinnen zu gehören, fehlten Ines Güttel fünf Jahre der 8-jährigen Ausbildung. Sie wollte jedoch den theoretischen Weg der Ballettausbildung studieren und bewarb sich 1988 erfolgreich an der Hans-Otto-Hochschule in Leipzig für das Fach Choreografie und Tanzpädagogik. Dort lebte sie mit den Kommilitonen in enger Gemeinschaft, man tauschte sich aus – auch über die ersten Zeichen einer politischen Wende, die nicht zu übersehen und zu überhören war. Zurück in den Juni 89 in Hamburg! Ohne Fahrkarte setzte sie sich in den Gang eines Zuges, der sie nach Gießen ins Notaufnahmelager brachte. Bald soll sie in ein anderes Lager. Doch sie will das nicht, kampiert lieber ein, zwei Nächte in einer Ecke am Bahnhof in Gießen. Das ist Ines Güttel: Entscheidungsfreudig und konsequent geht sie ihren Weg. Fährt nach Köln zur Musikhochschule. Mit 200 anderen bewirbt sie sich, zwei werden zur weiteren Prüfung zugelassen und Ines gehört dazu. Bei Professor Ursula Bormann studiert sie ein weiteres Mal Choreografie und Tanzpädagogik. Spätestens hier wurde ihr bewusst: das Wesen einer künstlerischen Betätigung ist der große Ernst. Nur wenn das, was man performen will, aus dem Innersten, aus der Seele kommt, gelingt der Auftritt. Dazu gehört die Wiederholung, die Vertiefung und wenn es hundert Mal sein muss und es einem „aus den Ohren rauskommt“.

    Foto: Mark Intelmann

    „Du musst als Künstler immer das Beste geben!“. Bestätigt wird sie immer wieder durch diverse ehemalige Tänzerinnen aus ihrer Ballettschule, welche nach ihrem Abitur Rotenburg verlassen haben und sich anderweitig in verschiedenen Städten nach einem qualifizierten Unterricht umgesehen haben. „Bei dir war es am professionellsten“, stellen diese immer wieder fest. Ines beschreibt, was es bedeutet, durch einen Saal zu schreiten, in der Hand eine imaginäre Blume. Präsenz vom Scheitel bis zur Sohle. Auch die Mimik ist wesentlich. „Das Lächeln muss von Innen kommen, es soll kein eingefrorenes Grinsen sein wie bei Standardtänzerinnen.“ Während sie das erzählt, leuchten ihre Augen, sie überzeugt mit ihrer Präsenz. Nach der erfolgreichen Abschlussprüfung zur Diplom-Ballettpädagogin wollte sie zurück ans Theater. Und als gebürtige Rostockerin in den Norden. Sie schaltet eine Annonce in einer Fachzeitschrift. In Rotenburg wird Verstärkung gesucht, die Leiterin einer Ballettschule sucht eine qualifizierte Lehrkraft… So beginnt 1992 ihre Rotenburger Zeit. Bald macht sie sich selbstständig, eröffnet das „Ballettstudio Ines Güttel“.

    Foto: Mark Intelmann

    Heute unterrichten vier Tanzpädagoginnen und ein Tanzpädagoge in verschiedenen Tanzsparten in ihrem Studio. Darunter Steffi Harbord aus Hamburg, seit 18 Jahren im Team. Unter allen Sparten von Klassik bis Breakdance bleibt für Ines Güttel der klassische Tanz das Lieblingsfach. Mehrere tausend Schülerinnen und einige Schüler sind in 27 Jahren durch ihre Schule gegangen. Nicht alle haben dieses Durchhaltevermögen. Aber es gibt Tänzerinnen wie Kerstin Bade, die schon mehr als 24 Jahre bei ihr sind. Nicht nur das Tanzen lernen die Kinder bei ihr, sondern auch „Haltung“ zu zeigen – für das Leben. Die Reaktion der Öffentlichkeit anlässlich der Gala bei ihrem 25. Studio-Jubiläum hat sie mit Stolz erfüllt. Ein schönes Gefühl, in Rotenburg den Namen und die Arbeit Ines Güttels zu kennen. Ihr Wunsch ist, dass sich in Rotenburg in nicht allzu ferner Zeit ein Konzert- und Theatersaal befindet! Natürlich sei sie dankbar, dass sie auf der großen Bühne des Ratsgymnasiums auftreten könne. Aber es müssten sich doch auch in Rotenburg genügend Sponsoren aus der Wirtschaft finden lassen, meint sie.

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    Foto: Mark Intelmann

    Auch hochkarätige Veranstaltungen wie die jährlich stattfindende „Klassik Familiär“ in Trelde bei Buchholz wären vielleicht mit Unterstützung in Rotenburg denkbar, sagt die Künstlerin. In diesem Jahr waren auch Schülerinnen von ihr mit dabei. Gemeinsam mit den Tänzern von John Neumeiers Hamburg Ballett standen sie auf der Bühne. Ines Güttel hat aber auch immer wieder außer zu ihrer eigentlichen Unterrichtsarbeit neue Herausforderungen angenommen. So lehrt sie Tanz an Schulen im Nachmittagsangebot. Am Waldau-Theater in Bremen hat sie viele Jahre als Dozentin für Musicalausbildung gewirkt. Für die Lindenschule hat sie ein Projekt geleitet und mit den Kindern erarbeitet, welches zur Aufführung in der Stadtkirche kam. Und mit Jeanette Clasen eine weitere gemeinsame Arbeit für die Lebenshilfe, mit dem Theater RollenTausch Molières „Der eingebildet Kranke“ auf die Bühne gebracht. Drei große Veranstaltungen mit Karl-Heinz Voßmeier an der Orgel wurden in der Rotenburger Stadtkirche durchgeführt. Zuletzt das 2015 aufgeführte Requiem von John Rutter. Ab dem kommenden Wintersemester wird sie als Dozentin an der HKS in Ottersberg „Tanz im Sozialen“ lehren und die Studenten dort auf ihrem Berufsweg begleiten. Während sie all das mit viel Temperament über sich und ihre Projekte, auch den zukünftigen, erzählt, weiß ihr Gesprächspartner eines ganz sicher: Rotenburg hat noch viel von Ines Güttel, ihrem Ballettstudio, ihren MitarbeiterInnen und den 200 Schülerinnen und Schülern zu erwarten.

    Heribert Eiden
    Heribert Eiden
    Erste Erfahrungen mit der Presse am Gymnasium in seiner Heimat. In der Schülerzeitung berichtet er 1967 u.a. höchst kritisch über eine NPD-Veranstaltung. Nach Studium von Germanistik und Geschichte in Freiburg wird Lehrer und engagiert sich im Theaterfach als Regisseur in Schulen wie im Rotenburger Theater RollenTausch.
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